Der Bruder als trojanisches Pferd?
Russlands Überfall auf die Ukraine ist, so hört man oft, ein „Bruderkrieg“. Was manchen als tragische Anomalie erscheint, ist aber tatsächlich der Normalfall. Ein Impuls von Moritz Rudolph.
Der erste Mord wurde unter Brüdern verübt. Kain erschlug Abel, dessen „Blut“ fortan von der „Erde“ zum Himmel „schrie“. So weit wollte Putin eigentlich nicht gehen und hatte sich das „Sammeln russischer Erde“ als lockeren Einmarsch von ein, zwei Wochen vorgestellt, um dem störrischen, davongelaufenen kleinen Bruder den Kopf zu waschen und ihn nach Hause, heim ins Reich zu holen. Doch der zeigt sich erstaunlich wehrhaft und der große Bruder mit jeder Woche noch bestialischer als man befürchtet hatte, sodass schon heute die Schreie des Bruders bis nach Moskau zu hören sind. Dort hält man sich Augen und Ohren zu und zieht die Sache durch.
Auch darüber, über die Brutalität, muss man sich nicht wundern, wenn man die Geschichte der Brudermetapher weiterverfolgt. In der Französischen Revolution wurden im Namen der Brüderlichkeit tausende geköpft. Anschließend wurde Europa mit dem ersten totalen Krieg überzogen, um das – sicher nicht schlechte – Produkt der Brüderlichkeit, den Code Napoléon, bis in den verborgensten Winkel der Erde zu tragen. Gerade weil man seine Feinde liebte – es waren ja Brüder – musste man ihnen zu Hilfe eilen, notfalls mit der „Guillotine“, dem „besten Arzt“, wie Georg Büchner Danton sagen lässt.
Dies fiel auch deshalb nicht allzu schwer, weil die moderne Brüderlichkeit eine künstliche ist, die nicht aus der Erfahrung des gemeinsamen Aufwachsens hervorgeht, sondern aus einem Wunsch nach Ähnlichkeit. Sie ist ein Ziel, kein Ausgangspunkt, beruht nicht auf Zärtlichkeit, sondern Homogenisierungslust und verlangt entsprechende Maßnahmen. So gesehen erscheint der Ukraine-Krieg als Erziehungstat, die dem Kreml aus zwei Gründen notwendig erschien.
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