Der Schrebergarten – eine deutsche Utopie
Der Schrebergarten ist die perfekte Symbiose zweier als ausnehmend deutsch geltender Sehnsüchte: Natur und Ordnung. Doch welche Ideologie steckt hinter den akkuraten Hecken? Ein Ausflug in die traditionsreiche Berliner Kleingartenanlage „Sonnenschein“.
Wochenende. Mit einem Seufzer der Erleichterung trete ich durch die Pforte unserer Kleingartenanlage „Sonnenschein“ tief im Osten Berlins. „Naherholungsgebiet“ steht auf einer Steintafel. Als hätte dieses Wort einen Abwehrzauber, verstummt der Lärm der Großstadt sofort. Sogar die Kinder sind plötzlich ganz still. Von meinem Arm aus beobachtet unser Sohn interessiert eine Amsel, die auf dem frisch gemähten Rasen von Parzelle 14 nach einem Wurm pickt. Seine große Schwester reitet auf ihrem imaginären Pferd Flöckchen voraus zu Parzelle 18, wo die gleichaltrige Chantal spielt. 1926 wurde die Anlage gegründet, die meisten Häuser stammen aus dieser Zeit, geräumige Holzhütten mit Küche, Schlafzimmer, Wintergarten, manchmal sogar Öfen. Mein Mann schiebt, leise vor sich hin pfeifend, den voll bepackten Kinderwagen, darin Nudeln, Windeln, Bier, Gelierzucker, was man so braucht für ein Wochenende im Garten.
Vor uns flimmert der Hauptweg in der Sommerhitze, zu beiden Seiten ordentlich geharkt, rechts von uns liegt der Festplatz, dahinter geht es links ab in die Stadionstraße, gleich sind wir da. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Hollywoodschaukel in unserer kühlen, efeubewachsenen Laube, sehe mich mit unserem Baby einen Mittagsschlaf halten, sehr tief und sehr lang, aber das hat natürlich nichts mit der Realität zu tun, denn was ich vor allem sehe, als wir um die Ecke biegen, ist das Unkraut vor unserem Gartenzaun.
Eine halbe Stunde später, der Sohn schlummert in der Schaukel, befreie ich das Kartoffelbeet vom giftigen Goldregen, der sich in dieser Saison in der gesamten Anlage ausbreitet. Mein Mann sammelt Fallobst. Zur Ruhe kommen werden wir erst am Abend, wenn die Brombeeren und Äpfel geerntet, die Beete gejätet sind. Ach, und steht nicht auch noch ein kollektiver, verpflichtender „Arbeitseinsatz“ morgen früh auf dem Festplatz an? Es gibt Freunde, die halten uns für schlichtweg verrückt. Freunde, die mit ihren Kindern am Wochenende einen Ausflug machen, Eis essen, ins Museum gehen, anstatt sich einem Bundeskleingartengesetz zu unterwerfen, dem zufolge ein Drittel der Fläche „zur nichterwerbsmäßigen gärtnerischen Nutzung, insbesondere zur Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen für den Eigenbedarf“ dienen muss. Freunde, für die Schrebergärten nicht nur der Inbegriff der Spießigkeit sind, sondern vor allem eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme – ja, Folterinstrumente. Natürlich verweisen mein Mann und ich in solchen Momenten auf die unzähligen Vorteile unseres Gartens: die glücklichen Kinder, die Ruhe, das Bier auf der Bank hinterm Haus am Abend, die selbst gemachte Marmelade, den benachbarten Orankesee, und all das für eine verschwindend geringe Pachtgebühr: Die Entscheidung für diesen Garten war eine der besten unseres Lebens. Im Grunde aber wissen wir, dass im Urteil unserer Freunde viel mehr Wahrheit steckt, als diese selbst ahnen. Moritz Schreber, Namensgeber des Schrebergartens, war Begründer der sogenannten Schwarzen Pädagogik. Ein Verfechter von Zucht und Ordnung, Drill und Gehorsam und damit ideologischer Wegbereiter des Faschismus. Schrebers ältester Sohn brachte sich um, der jüngere wurde als Paranoiker einer der berühmtesten Fälle Sigmund Freuds. Die Frage, warum wir Kleingärtner geworden sind, ist also mehr als berechtigt. Doch beginnen wir am besten ganz von vorn.
Die Wurzeln des Kleingartens
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