Die Mütter der Philosophen
Ödipuskomplex, Bewunderung, verwehrte Zuneigung. Welche Beziehung haben Philosophinnen und Philosophen zu ihren Müttern? Wie Denkerinnen und Denker über die Frauen schreiben, die sie zur Welt gebracht haben, lässt einige Rückschlüsse auf ihre Werke zu.
„So lebten wir, sie und ich, in einer Art von Symbiose, und ohne dass ich sie zu kopieren trachtete, wurde ich doch von ihr geformt“, schreibt Simone de Beauvoir in Memoiren einer Tochter aus gutem Hause (1958) über ihre Mutter Françoise Brasseur. Schon in jungen Jahren verspürte die kleine Simone das Bedürfnis, in die mütterlichen Fußstapfen zu treten, insbesondere wenn es um ihre „Tugend“ ging. Die zukünftige Schriftstellerin fürchtete sich vor allem davor, sie zu enttäuschen, was für sie nichts anderes bedeutete, als den Allmächtigen selbst zu enttäuschen: „In jedem Augenblick war sie noch im Innersten meines Herzens als Zeuge da, und ich machte kaum einen Unterschied zwischen ihrem und Gottes Auge über mir,“ erinnert sie sich.
Beauvoir spricht von der Strenge ihrer Mutter, würdigt aber auch ihre Toleranz: „Ich legte Wert auf die Achtung der anderen, aber wollte vor allem so genommen werden, wie ich war, mit allen Mängeln meiner noch jungen Jahre; meine Mutter gab mir durch ihre Zärtlichkeit für mein Wesen volle Rechtfertigung,“ gesteht sie ein. Françoise Brasseur gelang es, zwei scheinbar widersprüchliche Erziehungsziele miteinander in Einklang zu bringen: das Kind es selbst sein zu lassen und ihm gleichzeitig zu ermöglichen, sich auf seine ganz eigene Art weiterzuentwickeln.
Auch Sokrates erbte Wesen und Berufung von seiner Mutter Phänarete, einer Hebamme. Als der Philosoph älter wurde, praktizierte er seinerseits die Kunst der Geburtshilfe – die Maieutik –, allerdings nicht im herkömmlichen Sinne, sondern in Bezug auf den Verstand. Sein Ziel war es, die Menschen dabei zu unterstützen, die Wahrheit, die sie bereits in sich trugen, in Worte zu fassen. Es ist eine „Gabe“, die er und seine Mutter „von der Göttin Artemis“ erhalten haben, wie er im Theaitetos sagt.
Die schlechte Mutter
Es ist leicht, die Person zu lieben, die unsere Ratgeberin und unser Vorbild ist. Aber sollten wir die Mutter allein deshalb lieben, weil sie unsere Mutter ist? Mit dieser schrecklichen Frage musste sich Albert Camus auseinandersetzen, dessen Mutter Catherine Hélène Sintès apathisch war und damit beinahe gänzlich unfähig, ihre Zuneigung auszudrücken. Die mütterliche Stummheit, ihr „vernunftloses Schweigen“ und dessen „Trostlosigkeit“, bildeten zweifellos die Grundlage für das Gefühl der Absurdität der Welt, das zum zentralen Motiv in Camus' Denken werden sollte.
„Sie hat ihn nie gestreichelt, denn sie konnte es gar nicht. Er schaut sie also endlose Minuten lang an. Er fühlt sich fremd, er wird sich seines Schmerzes bewusst,“ berichtet der Schriftsteller und spricht in der dritten Person von sich selbst als Kind. Trotz allem spürt der kleine Albert, wie die Liebe zu seiner Mutter wie von selbst in ihm wächst: „Es ging nicht anders, sie ist schließlich seine Mutter“, erinnert er sich bitter.
Andere Philosophen, wie Arthur Schopenhauer, schwören der kindlichen Liebe gänzlich ab. Seine Mutter Johanna Schopenhauer war eine erfolgreiche Schriftstellerin. In einem von Groll strotzenden Brief offenbart Arthur Schopenhauer all das, was er ihr vorzuwerfen hatte: „Ich kenne die Weiber. Einzig als Versorgungsanstalt erachten sie die Ehe. Da mein eigener Vater siech und elend an den Krankenstuhl gebannt war, wäre er verlassen gewesen, hätte nicht ein alter Diener sogenannte Liebespflicht an ihm erfüllt. Meine Frau Mutter gab Gesellschaften, während er in Einsamkeit verging, und amüsierte sich, während er bittere Qualen litt.“ Der Verfasser des Essays Über die Weiber, eines der berüchtigtsten frauenfeindlichen Werke der Ideengeschichte, schloss daraus: „Das ist Weiberliebe.“
Die leidende Mutter
Mütter können dem Kind Leid zufügen – oder umgekehrt. Als Seneca im Jahr 41 n. Chr. von Kaiser Claudius ins Exil verbannt wurde, war er bereits über 30 Jahre alt. Seine Mutter Helvia litt an der Trennung – ein Schmerz, den der Sohn ihr ungewollt zufügte. In einem Brief mit dem Titel Ad Helviam matrem de consolatione (Trostschrift an die Mutter Helvia) klagt er: „Oft schon, beste Mutter, nahm ich einen Anlauf dich zu trösten, oft hielt ich wieder inne.“ Um ihren Kummer zu lindern, schlägt er ihr darin eine Reihe von Abhilfen vor, wie zum Beispiel das Studium oder die Zuflucht bei Menschen, die ihr nahestehen. In seinem langen Brief verdeutlicht der Stoiker jedoch auch die Grundsätze seiner Philosophie, die die Seelenruhe – die Ataraxie – als höchstes Ziel des Lebens ansieht. Mehr als nur eine kindliche Pflicht kommt das Trösten seiner Mutter einem philosophischen Imperativ gleich.
Doch die Ruhe, die das stoische Ideal anpreist, scheint mit dem Muttersein nicht immer ganz vereinbar zu sein. Martha Arendt, die Mutter von Hannah Arendt, widmete ihrer Tochter von Geburt an ein Tagebuch – Unser Kind. Aufzeichnungen von Martha Arendt –, in dem sie die Mutterliebe als ständige Sorge dargestellt: Jedes kleine Wehwehchen, etwa eine harmlose Ohrenentzündung oder ein Sturz, wird darin sorgfältig dokumentiert. Als ihre Tochter später ins Schulalter kommt, schreibt Martha Arendt: „Ich bin ernstlich in Sorge. Sie ist von einer außerordentlichen seelischen Sensibilität und leidet unter jedem Menschen, mit dem sie zu tun hat. Ich sehe meine Jugend in ihr wieder und bin traurig, daß sie denselben Leidensweg in Bezug auf Menschen machen wird, wie ich.“ Damit formuliert sie eine universelle elterliche Sorge: die Angst, dass ihr Kind die gleichen Prüfungen durchmachen muss wie sie selbst.
Die ödipale Mutter
„Später werde ich sie heiraten, um sie zu beschützen. Das verspreche ich ihr: ich werde schützend meine Hand über sie halten, ich werde meine junge Bedeutung in ihren Dienst stellen,“ schreibt Jean-Paul Sartre in Die Wörter (1964), der Autobiografie über seine Kindheit. Anne-Marie Schweitzer, seine Mutter, ist eine junge Witwe, die wieder bei ihren Eltern lebt. Der kleine „Poulou“ betrachtet sie als ebenbürtig, als „ältere Schwester“ oder sogar als seine Verlobte: „Meine Mutter gehörte mir, niemand machte mir diesen ruhigen Besitz streitig,“ erinnert er sich. Sein Ödipuskomplex, den er selbst als „unvollständig“ bezeichnet, erspart ihm obendrein schmerzliche Eifersucht. Weil er keinen Rivalen hat, erkennt er die Wirklichkeit „zuerst nur an ihrer lachenden Substanzlosigkeit.“
Bei Rousseau nimmt der Ödipuskomplex ganz andere Ausmaße an. Alles beginnt mit einem Drama. Der Philosoph verliert seine Mutter, Suzanne Bernard, bei seiner Geburt. Infolgedessen baut er sehr zwiespältige Beziehungen zu den Frauen auf, die ihn aufziehen. Die Episode der Prügelstrafe durch Mademoiselle de Lambercier ist eine der berühmtesten in seinen Bekenntnissen. Sie handelt von der masochistischen Erregung, die die Androhung und die anschließende Ausführung der körperlichen Züchtigung bei Rousseau auslösen: „Der Schmerz und selbst die Scham war mit einem Gefühle von Sinnlichkeit verbunden gewesen, das in mir eher das Verlangen, es von derselben Hand von Neuem erregt zu sehen, als die Furcht davor zurückgelassen hatte,“ gesteht er.
Mit seiner anderen Erzieherin, Madame de Warens, wurden die Dinge konkreter. Er lernt sie mit 15 Jahren kennen, sie wird zu seiner „Beschützerin“. Er nennt sie „Mama“, sie nennt ihn „Kleiner“ – Bezeichnungen, die sie während ihrer gesamten Beziehung beibehalten, selbst als diese, als Rousseau 20 Jahre alt ist, „eine andere Form“ annimmt: Der Philosoph gibt sich der ganzen Zuneigung hin, die er für diese „junge und hübsche Mama“ empfindet.
Die geliebte Mutter
„Ich liebe auf dieser Welt nur eine Person, und das ist Mama,“ schrieb Marcel Proust in einem Brief an seinen Freund Louis d'Albufera, wenige Tage nach dem Tod seiner Mutter Jeanne Weil. Proust hatte als Kind die panische Angst vor dem Verlassenwerden erlebt, als seine Mutter eines Abends nicht zu ihm kam, um ihm einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Damals endete der Zwischenfall für den kleinen Marcel glimpflich, und er verbrachte die Nacht bei seiner Mutter. Dennoch war ihm bereits bewusst, dass dies nicht so bleiben würde: „Ich wusste, dass eine solche Nacht sich nicht wiederholen konnte; dass das größte Verlangen, das ich auf der Welt hatte, meine Mutter in den traurigen Nachtstunden in meinem Zimmer zu behalten, zu sehr im Gegensatz zu den Notwendigkeiten des Lebens stand.“
Mutterliebe ist oft eng mit Kindheitserinnerungen verbunden. „Seine Mutter zu beweinen, bedeutet, seine Kindheit zu beweinen,“ schreibt Albert Cohen in Das Buch meiner Mutter (1954). Seine Mutter Louise Cohen verkörperte für ihn die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies: „Der Mensch sehnt sich nach seiner Kindheit, will sie wiederhaben, und wenn er seine Mutter mit zunehmendem Alter mehr liebt, dann deshalb, weil seine Mutter seine Kindheit ist“, schließt er.
Auch Romain Gary schreibt in höchsten Tönen über die Liebe zu seiner Mutter Mina Owczyńska. Eine Liebe, die so rein und absolut ist, „dass sie einem schlechte Gewohnheiten verleiht. [...] Man glaubt, dass sie anderswo existiert, dass sie wiedergefunden werden kann.“ Das Gefühl ist jedoch einzigartig und nirgendwo sonst zu finden. Das inspirierte ihn zum Titel seines Romans Erste Liebe – letzte Liebe (auf französisch etwa: „Das Versprechen der Morgendämmerung“, 1960), denn, so schließt er: „Mit Mutterliebe macht euch die Liebe ein Versprechen in der Morgendämmerung, welches sie nie halten wird.“ •