Frauke Rostalski: „Wir sind mit einem hohen Maß an Ungewissheit konfrontiert“
Der Deutsche Ethikrat hat seine Ad-hoc-Empfehlung Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht veröffentlicht. Die Positionen innerhalb des Rats waren unterschiedlich. Im Interview spricht Frauke Rostalski, Mitglied des Ethikrats, über die Gründe.
Frau Rostalski, 13 Mitglieder des Ethikrats haben sich für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren ausgesprochen. Mit welcher Begründung?
Die Mitglieder, die sich für eine gesetzliche Impfpflicht ab 18 Jahren ausgesprochen haben, stützen ihre Einschätzung auf verschiedene Punkte. Insbesondere gehen sie davon aus, dass es nicht genüge, lediglich die Risikogruppen zu impfen, um die Intensivstationen zu entlasten. Sie sehen in dieser Maßnahme außerdem die Möglichkeit, das Gesamtinfektionsgeschehen nachhaltig einzudämmen und insbesondere Schädigungen wie Long und Post Covid zu reduzieren. Ihnen geht es außerdem um den Schutz derer, die sich selbst nicht impfen lassen können.
Sieben Mitglieder des Ethikrats hingegen haben eine risikodifferenzierte Position vertreten und befürworten eine Impfpflicht lediglich für besonders vulnerable Erwachsene. Was ist das Kernargument?
Die Kernargumente liegen zum einen in einer konsequenten Umsetzung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Danach muss insbesondere das mildeste Mittel gewählt werden – wenn also mehrere ebenso effektive Mittel zur Verfügung stehen, muss dasjenige gewählt werden, das am wenigsten eingriffsintensiv ist. Coronaschutzmaßnahmen dienen der Entlastung des Gesundheitssystems. Die Intensivstationen werden aber in erster Linie von älteren und hochbetagten Corona-Patienten in Anspruch genommen. In Deutschland sind über 3 Millionen Menschen über 60 Jahren nicht geimpft. Es liegt daher nahe, dass eine Impfung dieser Menschen zu einer signifikanten Entlastung des Gesundheitssystems führen würde – bei gleichzeitiger rechtzeitiger Boosterung der übrigen Angehörigen dieser Gruppe. Daher muss aus Gründen der Verhältnismäßigkeit zunächst dieser Schritt ergriffen werden, bevor pauschal alle Bevölkerungsmitglieder von einem so massiven Eingriff wie einer gesetzlichen Impfpflicht erfasst werden dürfen. Dies entspricht auch dem Gedanken intergenerationeller Solidarität – ein zweites Kernargument: Mit den gesundheitlich besonders gefährdeten Menschen haben sich in den vergangenen knapp 2 Jahren die weniger Gefährdeten in hohem Maße solidarisch gezeigt. Vor allem Jüngere haben teils erhebliche Freiheitseingriffe hingenommen, um die Älteren und Vorerkrankten zu schützen. Wenn es eine Impfung gibt, die effektiv vor schweren Verläufen schützt, ist es dann auch ein Akt der Solidarität, dass die besonders Gefährdeten diesen Weg gehen, um zu verhindern, dass alle anderen weiterhin massive Freiheitseinschränkungen hinnehmen müssen.
Was war Ihr Votum?
Es gab noch eine dritte Position. Ich gehöre zu den 4 Ratsmitgliedern, die sich gegen eine Ausdehnung der gesetzlichen Impfpflicht ausgesprochen haben. Ich habe gegen die Ad hoc-Empfehlung gestimmt. Grund dafür ist, dass aus meiner Sicht nicht die Voraussetzungen dafür vorliegen, um so vorzugehen, wie eben beschrieben: Selbst eine Impfpflicht gegenüber den besonders Alten oder den Vorerkrankten lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt meiner Ansicht nach nicht rechtfertigen. Der Grund liegt darin, dass wir derzeit mit einem hohen Maß an Ungewissheit konfrontiert sind: Nicht zuletzt angesichts der Omikron-Variante wissen wir gar nicht, wie wirksam unsere Impfstoffe dagegen schützen. Dann kann aber eine gesetzliche Impfpflicht nur ein Symbol sein – fehlt es an einem effektiven Mittel, dem Virus zu begegnen, lässt sich eine gesetzliche Pflicht zur Impfung meines Erachtens nicht rechtfertigen. Neben diese Ungewissheiten treten aus meiner Sicht erhebliche Schwierigkeiten in der Durchsetzung einer solchen Pflicht. Wir müssen mit einer hohen Zahl an Impfverweigerern rechnen, wenn diese Pflicht kommen sollte. Wie möchte der Staat dem begegnen? Instrumente wie unmittelbarer Zwang zur Impfung oder Inhaftnahmen lassen sich aus meiner Sicht verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen. Aber auch massenhafte Zwangsvollstreckungen sind eine Vorstellung, die ich nicht mit der Pandemie verbinden möchte. Die bereits bestehenden gesellschaftlichen Gräben dürften auf diese Weise immer weiter vertieft werden. Eine Pflicht, die sich praktisch kaum umsetzen lässt, ist aber nicht zu rechtfertigen.
In der Empfehlung wird der Solidaritätsgedanke betont: Auch wenn ich keinen unmittelbaren Nutzen aus einer Maßnahme ziehe, trage ich sie mit, um andere zu schützen. Gibt es für Sie auch Grenzen der Solidarität?
Eine Impfpflicht der Jüngeren, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, lässt sich aus meiner Sicht nicht mit dem Gedanken der Solidarität begründen. Aus meiner Sicht besteht insoweit grundsätzlich auch keine moralische Pflicht. Die Gründe habe ich bereits genannt: Diese Personen haben sich für sehr lange Zeit sehr solidarisch gezeigt. Der Solidaritätsgedanke sollte allerdings nicht überspannt werden. Wenn sich weniger gefährdete Menschen zu einer Impfung entscheiden, weil sie damit andere schützen möchten, ist dies solidarisch. Allerdings kann dies meiner Einschätzung nach nicht von ihnen als Pflicht verlangt werden – weder moralisch noch rechtlich.
Die Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht zu nehmen ist das eine. Aber müsste man nicht auch den Staat in die Pflicht nehmen, dass er für ausreichende Krankenhaus- und Intensivkapazitäten sorgt?
Diese Einschätzung teile ich. Daher denke ich auch, dass staatliche Versäumnisse im Pandemieschutz nicht schlicht umgemünzt werden dürfen in erheblichere Freiheitseingriffe gegenüber dem Bürger. Dieser Gedanke trägt nach meiner rechtlichen Einschätzung für sich genommen nicht die Ablehnung einer gesetzlichen Impfpflicht. Er ist aber zusätzlich in die Abwägung einzubeziehen. Wenn wir sehen, dass es in der jüngeren Vergangenheit große Versäumnisse in diesem Bereich gegeben hat, ist dies zu berücksichtigen, wenn man darüber nachdenkt, den Pflichtenkreis der Bürger in der Pandemie weiter auszudehnen.
Die Ungewissheit der Situation und die Vorläufigkeit der Datenlage wird in der Empfehlung immer wieder betont. Könnte es also sein, dass man eines Tages auch eine gesetzliche Impfpflicht revidieren muss, sollte sie tatsächlich eingeführt werden?
Eben dieses Risiko sehe ich auch. Unter anderem weil die Ungewissheit derzeit so erheblich ist, habe ich mich auch gegen eine Ausdehnung der gesetzlichen Impfpflicht ausgesprochen.
Aber könnte die Ungewissheit nicht auch gerade ein Argument für die allgemeine Impfpflicht sein? Denn was, wenn es viel schlimmer kommt, als man vielleicht annimmt? Ist es dann nicht besser, für alle Fälle gewappnet zu sein?
Zu Beginn der Pandemie sind wir eine ganze Zeit lang – zu Recht – nach diesem Prinzip verfahren: Wenn besonders wenige Informationen verfügbar sind, ergibt es einen guten Sinn, höchste Vorsicht walten zu lassen. Diese Form des Vorsorgeprinzips kann aber nicht über die Dauer von knapp 2 Jahren aufrechterhalten werden, wenn – wie glücklicherweise im Fall des Corona-Virus – immer mehr Wissen hinzukommt. Dann gerät aber der Staat in die Begründungslast, wenn er massive Freiheitseingriffe vornehmen möchte. Um einen solchen handelt es sich aber bei einer allgemeinen Impfpflicht. Hier ist es dann Aufgabe des Staates zu begründen, weshalb andere Maßnahmen nicht effektiv genug sind. Konkret wäre es doch zu erwarten, dass zunächst die Effekte abgewartet und evaluiert werden, die die Einführung der berufsbezogenen Impfpflicht im Frühjahr des nächsten Jahres haben werden. Ebenso verhält es sich im Hinblick auf 2G-Regelungen und deren Einfluss auf das Pandemiegeschehen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Der Ethikrat befürwortet eine Impfpflicht, keinen Impfzwang. Was genau ist der Unterschied?
Wir sollten uns hier von dieser Rhetorik, wie sie auch in der breiten gesellschaftlichen Debatte anzutreffen ist, nicht irritieren lassen: Sinn und Besonderheit einer verbindlichen Rechtspflicht ist es, dass sie prinzipiell auch mit staatlichem Zwang durchgesetzt werden kann. Das unterscheidet rechtliche Pflichten von bloßen moralischen. Insofern lässt sich durchaus sagen, dass jede rechtliche Pflicht auch Zwang ist. Gemeint ist mit der Formulierung der Ablehnung des „Impfzwangs“ allerdings, dass unmittelbarer Zwang bei einer Impfpflicht vom Deutschen Ethikrat ausgeschlossen wird. Eine mit unmittelbarer körperlicher Gewalt durchgesetzte Impfung soll es also nicht geben. Allerdings sind auch zum Beispiel Inhaftnahmen oder ein Zwangsgeld nichts anderes als eine Form des Zwangs, wovon die Formulierung nicht ablenken sollte. •
Frauke Rostalski ist Mitglied im Deutschen Ethikrat und Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln.