Harald Welzer: „In manchen Berufen wird nur noch Unsinniges gemacht“
In Island wurde erfolgreich die 4-Tage-Woche getestet. Der Soziologe Harald Welzer argumentiert im Interview, warum das auch ein Modell für Deutschland wäre, wir uns vom Fetisch der Erwerbsarbeit befreien sollten und die grassierende Bewertungskultur zur Entmenschlichung führt.
Herr Welzer, in Island wurde unter einem Prozent der berufstätigen Bevölkerung von 2015 bis 2019 die Vier-Tage-Woche getestet. Sprich: Die Wochenarbeitszeit wurde bei gleichbleibender Bezahlung von 40 auf 35 bzw. in Teilen auf 36 Stunden verkürzt. Nach der Auswertung der beiden großangelegten Studien kamen die Wissenschaftler nun jüngst zu dem Schluss, dass es sich hierbei um einen Erfolg handelt, weil die Produktivität trotz weniger Arbeit gleichblieb. Wäre eine derartige Verkürzung auch für Deutschland denkbar?
Denkbar ist das schon allein aus dem Grund, weil es die 35-Stunden-Woche in Deutschland bereits gab, nachdem sie Ende der 1970er-Jahre in einer langen und harten Phase von Arbeitskämpfen errungen wurde. Damals stand nicht die Forderung nach mehr Lohn, sondern nach einer Reduzierung der Arbeitszeit im Fokus. Auch wenn es heute meist andere Akzentuierungen gibt, ist eine derartige Verkürzung keinesfalls ausgeschlossen. Dennoch ist recht deutlich, dass es in Deutschland einen Fetisch von Erwerbs- und Lohnarbeit gibt.
Haben Sie für diesen „Fetisch“ eine Erklärung? Denn nicht nur durch Studien wie jene aus Island scheint ja belegt, dass mehr Arbeitszeit eben nicht mehr Produktivität bedeuten muss. Warum halten wir dennoch so rigide an der Idee fest, dass man 40 Stunden pro Woche arbeiten muss, damit man als jemand gilt, der wirklich etwas „leistet“?
Deutschland ist eines der frühindustrialisierten Länder, in dem sich die entsprechende Produktionsart mitsamt dem zugehörigen Zeitregime sowie einer dazu passenden, normativen Hochbewertung von Arbeit über mehrere Generationen in die Psyche eingeschrieben hat. Zudem hat auch die Arbeiterbewegung ihren Teil dazu beigetragen, da diese erst lernen musste, mit dem industriell diktierten Zeitrhythmus umzugehen. Allerdings hat sie im Zuge dieses Lernprozesses und damit parallel zur Forderung des 8-Stunden-Tages auch begonnen, Arbeit als etwas ganz besonders Großartiges anzusehen. Der Gedanke, dass „es keine schlechte Arbeit gibt“, ist ja bis heute tief in der DNA der Sozialdemokratie verankert. Besieht man das historisch, mutet es fast absurd an, da eine solche Auffassung vor 300 Jahren niemand vertreten hätte.
Sie würden also sagen, dass es keine zwingenden Gründe für die 40-Stunden-Woche gibt, sondern dieser Umstand einfach ein Produkt historischer Bequemlichkeit, vielleicht sogar Einfallslosigkeit ist?
Ich würde das nicht als historische Einfallslosigkeit, sondern weniger wertend als historische Prägung bezeichnen. Man muss nämlich auch sehen, dass mit dem bereits beschriebenen Prozess der Industrialisierung die Arbeit als Erziehungsmittel etabliert wurde. Wir merken mitunter heute noch, dass Begriffe wie Arbeit, Erziehung, Disziplin, ordentliche Lebensführung usw. stark miteinander verkoppelt sind.
Im Sinne von: „Wer arbeitet, hat sein Leben im Griff“?
Sie können es auch umgekehrt sehen: Denken Sie beispielsweise an Diskussionen über das bedingungslose Grundeinkommen, gegen das oft sehr schnell der Einwand vorgebracht wird, die Leute hingen dann nur noch auf dem Sofa und guckten RTL. Es ist ja auch bezeichnend, dass darin die größte zivilisatorische Angst überhaupt zu bestehen scheint, die eine bürgerliche Gesellschaft haben kann. Doch ist diese Angst zum einen durch nichts belegt. Und zum anderen wäre die Frage, was denn daran so schlimm wäre, würde sie sich bestätigen? Ich glaube, dass diese Angst mehr über die Ängstlichen aussagt als über die, für die man sich ängstigt, weil sie zeigt, dass Erwerbsarbeit noch immer als ein zentraler Quell der Sinngebung gilt.
In seinem 1930 veröffentlichtem Aufsatz Economic Possibilities for our Grandchildren prognostizierte der Ökonom John Maynard Keynes für das Jahr 2030 eine Arbeitszeit von nur mehr 15 Stunden. Der globale Trend hingegen weist derzeit in die entgegengesetzte Richtung. Woran liegt das?
Es ist schlicht und ergreifend eine Tatsache, dass Zeit nicht als politische Gestaltungsaufgabe begriffen wird, denn was macht man mit den Produktivitätszuwächsen, die es ohne Zweifel gibt? Man übersetzt sie in die Generierung von weiterem Mehrwert und nicht in kürzere Arbeitszeit. Keynes hat sich also getäuscht, weil er die Wirksamkeit von privaten Aneignungen massiv unterschätzte. Aber immerhin gibt es bei der IG Metall jetzt Tarifabschlüsse mit der Wahl zwischen mehr Einkommen oder mehr Freizeit. Das sind also schon kleine Anzeichen dafür, dass es eine Renaissance der Arbeitszeitdiskussion gibt. Ansonsten wird aus Arbeitnehmerperspektive allerdings meist für mehr Lohn optiert, während aus Arbeitgeberperspektive der Produktivitätszuwachs so investiert wird, dass man noch produktiver sein kann. Zudem handelt es sich bei dem Drang, ständig beschäftigt zu wirken schließlich auch um ein Kulturphänomen. Etwas also, das sich nicht ohne Weiteres ändern lässt.
Kann man dagegen gar nichts unternehmen?
Eine Möglichkeit bestünde darin, dass man eine andere Sichtweise auf Erwerbsarbeit entwickelt, etwa indem man eingesteht, dass es natürlich auch schlechte Arbeit gibt, die es am besten abzuschaffen gilt.
Eine Ansicht, der überzeugte Sozialdemokraten vehement widersprechen würden.
Das ist richtig, ändert aber nichts an der Tatsache, dass manche Tätigkeiten einfach zum Kotzen sind, wie es etwa David Graeber in seinem Buch Bullshit Jobs gut beschrieben hat. In manchen Berufen wird ab einem bestimmten Punkt einfach nur noch Unsinniges oder eben gar nichts mehr gemacht. Wobei Graeber in diesem Zusammenhang argumentiert, dass niemand diese Bullshit Jobs erfindet, sondern es sich um ein Systemphänomen von zu viel Arbeitszeit handelt. Fesselt man Menschen den ganzen Tag an den Schreibtisch, müssen sie diese Zeit eben füllen. Und dieses Füllmaterial ist nicht immer höchster Güte. So oder so wäre es für alle eine unglaubliche Entlastung, würde man derlei Art von Arbeit durch Roboter und entsprechende Automatisierung abschaffen.
Somit würden Sie die oft als Drohszenario aufgebaute Vorstellung der Automatisierung bestimmter Tätigkeiten vielmehr als gesellschaftliche Entlastung verbuchen?
Jeder, der schon mal an einem Fließband gearbeitet hat, weiß, dass es furchtbare Arbeit gibt, die wirklich niemand machen müssen sollte. Durch die Digitalisierung besteht die Möglichkeit, dass wir schon sehr bald viele dieser Arbeiten tatsächlich nicht mehr tun brauchen. Insofern wäre es wünschenswert, wenn man überlegte, was man mit dem durch die Automatisierung erzeugten Mehrwert sozial anfangen könnte, letzterer also nicht der privaten Aneignung, sondern dem gesellschaftlichen Reichtum zugutekäme. Die Automatisierung kann man also nur dann als Drohszenario wahrnehmen, wenn man entfremdete Arbeiten als wertvoll ansieht. Zu diesen Leuten zähle ich mich allerdings nicht. Vielleicht müsste man in diesem Zusammenhang aber auch nochmal aus einem anderen Blickwinkel auf Arbeit schauen.
Wie sähe der aus?
Wer noch immer unangenehme Arbeiten verrichtet, müsste viel besser bezahlt werden, als dies bis dato der Fall ist. Denken Sie nur an die Pandemie und eines der großen ungelösten Rätsel der Menschheit, wieso die sogenannten systemrelevanten Jobs mit die schlechtesten Arbeitsbedingungen haben und zudem noch miserabel bezahlt werden. Wenn heute eine Pflegekraft mit 1800 Euro nach Hause geht und ein Manager bei Monsanto eine halbe Million Euro verdient und man den gesellschaftlichen wie ökologischen Nutzen der jeweiligen Tätigkeit vergleicht, kommt man auf eine sehr fragwürdige Bilanz. Zudem haben wir mit der Tatsache zu kämpfen, dass die Einkommensdiskrepanzen in den vergangen 30 Jahren enorm angewachsen sind, weshalb sich die dringende Frage nach einer anderen Verteilung stellt.
Nochmal zurück zur Arbeitszeitverkürzung: Ist diese wirklich für alle Branchen wünschenswert? Immerhin herrschen doch in vielen Tätigkeitsfeldern bereits jetzt ein Fachkräftemangel und Überforderung. Würde eine Arbeitszeitverkürzung einige Menschen also nicht strukturell noch stärker überlasten?
Das sehe ich anders, weil die Antwort auf diese Frage doch nicht eine höhere Belastung für die jeweiligen Menschen sein kann, sondern in vernünftiger Entlohnung und einer gesellschaftlichen Höherbewertung liegen muss. Denn von diesen beiden Faktoren hängt es doch ab, ob Menschen bestimmte Jobs ausführen wollen oder nicht. Wobei die Frage der Entlohnung den normativen Aspekt praktisch schon beinhaltet, weil Berufe, die gut vergütet werden, gesellschaftlich fast automatisch hoch bewertet werden. Auch hier scheint es mir also wichtig, dass man die altmodisch anmutende Kategorie des Gemeinwohls mitdenkt, sich also fragt, was eine angemessene Bewertung und Entlohnung dessen ist, was eine bestimmte Tätigkeit für die Gesellschaft bringt.
Es geht also um Anerkennung?
Sicherlich, allerdings darf die nie von der Entlohnung entkoppelt gedacht werden. Was sonst passiert, haben wir ja in der Pandemie gesehen, als manche Pflegekräfte das Klatschen als zynisch empfunden haben, weil sie sich davon natürlich gar nichts kaufen können.
Um nochmals auf die eingangs erwähnte Studie aus Island einzugehen, wäre es ja auch denkbar, dass Arbeitgeber solche Erkenntnisse auch dazu nutzen könnten, um noch mehr Druck auf Arbeitnehmer auszuüben. Nach dem Motto: „Wenn ihr in vier Tagen, das schafft, was davor in fünf ging, macht ihr ab jetzt fünf Tage von der Qualität dieser vier.“
Das ist auf jeden Fall eine Gefahr. Zudem haben wir es ja auch noch mit einem anderen Phänomen zu tun. Und zwar mit einer Abkehr von dem, was man in den westlichen Gesellschaften für ein paar Jahrzehnte als Normalarbeitsverhältnis beschrieben hat, bei einer gleichzeitigen Hinwendung zu diversifizierten und prekarisierten Beschäftigungen. Gerade durch die Schwächung der Gewerkschaften sowie durch das Nichtvorhandensein von Betriebsräten sind insbesondere in prekären Bereichen die faktischen Arbeitsbedingungen wesentlich schlechter geworden. Sie müssen sich ja nur diese Manchesterkapitalismus-Unternehmen vom Typ Gorillas anschauen, in denen die Leute teilweise wegen Minutenverspätungen Abmahnungen bekommen – das sind Verhältnisse, die nichts mehr mit einer modernen Gesellschaft, geschweige denn mit Anerkennung zu tun haben. Daher sollte man solche Dienste auch nicht in Anspruch nehmen.
Was genau widerspricht hier der Idee einer modernen Gesellschaft?
Julia Friedrichs hat in ihrem neuen Buch Working Class einige eindrückliche Beispiele versammelt. Unter anderem ist die Rede von Menschen, die in Berlin die U-Bahnen reinigen, was nun wirklich kein angenehmer Job ist, sich aber dennoch ein Ticket kaufen müssen, wenn sie die Bahn nutzen wollen. Viel unsubtiler kann man die Verachtung gegenüber diesen Menschen nicht ausdrücken. Getoppt wird das nur noch von diesen Bewertungsdingern zum Beispiel an öffentlichen Toiletten - ein Smiley für guten Service, ein ausdrucksloses Gesicht für mittelmäßigen und einen mit hängenden Mundwinkeln für schlechten Service.
Was stört sie daran?
Ich empfinde es für die Putzkräfte als eine absolute Verachtung, dass deren Arbeit von Leuten bewertet wird, die keine Ahnung haben, was es bedeutet, diese Arbeit auszuführen. Was qualifiziert mich an dieser Stelle zur Beurteilung? Weil ich da pinkle? Ich weiß nicht, wie viel diese Menschen verdienen, wie lange die dort schon bei schlechter Luft sitzen oder wie vielen Leuten die heute schon hinterhergewischt haben, weil die kein Benehmen haben. In dieser Bewertungskultur spielt all das keine Rolle, sondern jeder Vollidiot ist in das Recht gesetzt, die Arbeit von jemandem zu beurteilen, die er überhaupt nicht beurteilen kann. Zudem haben wir es hier auch mit einer enormen Diffusion von Verantwortung zu tun.
Inwiefern?
Stellen Sie sich ein beliebiges Kündigungsgespräch vor. Wenn Rainer zu viele schlechte Bewertungen bekommt, muss der Arbeitgeber nichts begründen, sondern kann sich einfach auf die Meinung der Kundschaft berufen. Er zeigt einfach auf eine Statistik und sagt „Rainer, siehst Du selbst, oder?“ Dass dieser Trend nicht an den Türen öffentlicher Toiletten Halt macht, sondern immer mehr auch in zahlreichen anderen Bereichen des Lebens implementiert wird, ist offensichtlich. Man denke nur an Service-Center-Mitarbeiter, an Uber-Fahrer oder auch an Restaurants. Diese Bewertungen sind das genaue Gegenteil einer Anerkennungskultur und dennoch greifen sie immer weiter um sich, wodurch sie zu einer vollkommenen Selbstverständlichkeit werden. Die Folge besteht in einer massiven Herabminderung des Schätzens von Arbeitsqualität. Und mehr noch: In unserer Eigenwahrnehmung bewerten wir zwar Dienste, tatsächlich bewerten wir jedoch Menschen, die von dieser Zu- oder Abneigung mitunter ganz handfest abhängen. Das geht nicht nur mit einer Entpersonalisierung, sondern in einem gewissen Grad auch mit einer Entmenschlichung einher. •
Harald Welzer ist Soziologe und Sozialpsychologe. Er leitete das Center for Interdisciplinary Memory Research (CMR) in Essen und ist Mitbegründer der gemeinnützigen Stiftung „Futurzwei“. Zuletzt erschien von ihm u.a. „Alles könnte anders sein – Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“ (S. Fischer, 2019).