Lost & Found
Warum denken wir bei griechischen Philosophen immer nur an Sokrates, Platon, Aristoteles und nie an Leontion, Hypatia, Theano? Eine Frage, die sich nicht erst die moderne Frauengeschichte stellt, sondern die über die Jahrhunderte immer wieder die Gelehrten bewegt hat.
Kaum ein Bild hat unsere Vorstellung vom Aussehen des Philosophen so sehr geprägt wie dasjenige, das wir uns von ikonischen antiken Größen des Faches wie Sokrates machen: bärtige alte Männer, umwallt vom auch „Philosophenmantel“ genannten weiten Tribon. Was wir allgemein als die Wiege der abendländischen Philosophie ansehen, nämlich das griechische Denken ab dem 5. Jahrhundert vor Christus, ist in der auf uns überkommenen Überlieferung solide männlich: Platon, Aristoteles, Pythagoras, Diogenes der Kyniker, Zenon der Stoiker, Epikur und die nach ihnen benannten Denkschulen beherrschen unseren Kanon – selbst da, wo ihre Werke nur fragmentarisch überlebt haben. Was aber, wenn wir bei antiker Philosophie nicht nur an Pythagoras, Epikur, Zenon denken würden, sondern auch an Leontion, Hypatia, Theano?
Dass es in der Antike auch Philosophinnen gab, ist nicht nur anhand unseres klassischen Kanons und der in ihm überlieferten Werke und Werkbeschreibungen schwer vorstellbar, sondern auch anhand dessen, was wir über die gesellschaftlichen Verhältnisse bei den alten Griechen zu wissen meinen: Die Abschirmung von Töchtern und Ehefrauen im streng separierten Innenraum, die wir aus athenischen Beschreibungen kennen, wurde schließlich schon von den ebenfalls nicht besonders modernen Römern als sexistisch kritisiert. Und doch gab es schon im griechischen Altertum offensichtlich mehr Denkerinnen, als man gemeinhin glaubt, das fällt beim Blick auf antike Quellen immer wieder auf. Philosophinnen werden von zahlreichen Autoren erwähnt, von Cicero über Plutarch bis zu Diogenes Laertius.
Seit an den Universitäten ab den 1970er- und 1980er-Jahren in der Folge des feministischen Aufbruchs „Frauenforschung“ und „Frauengeschichte“ betrieben wird, wurden und werden diese wieder ans Tageslicht geholt. Hypatia von Alexandrien, die in der Spätantike berühmte und viel gerühmte Lehrerin mit großer Gefolgschaft, ist in den letzten Jahrzehnten geradezu zum Sinnbild der vergessenen weiblichen Tradition in der Philosophie geworden: Eine der frühsten Zeitschriften für feministische Philosophie hat sich nach ihr benannt, die 1986 gegründete amerikanische „Hypatia: A Journal of Feminist Philosophy“.
Verwischte Spuren
Allerdings waren es nicht erst die Feministinnen des 20. Jahrhunderts, denen auffiel, dass antike Quellen viel mehr philosophierende Frauen zumindest am Rand erwähnen, als in der kanonisierten Philosophiegeschichte auftauchen. Vielmehr finden sich über die Jahrhunderte immer wieder Gelehrte, die versuchen, die halb verwischten Spuren der antiken Philosophinnen freizulegen. Spätestens ab dem 15. Jahrhundert wird die Stellung der Frau sowieso heiß diskutiert, und der Versuch, weibliche Beiträge zur Literatur- und Philosophiegeschichte nachzuweisen und gegen misogyne Anfechtungen des weiblichen Geschlechts in Stellung zu bringen, gehört ohne Zweifel in den größeren Zusammenhang der als „Querelle des femmes“ bekannten frühneuzeitlichen Feminismus-Debatte.
Und dabei kommt einiges zusammen: Ein Artikel in den Hannoverischen Beyträgen vom 21. Mai 1762 mit dem Titel Nachricht von einigen Gelehrten des schönen Geschlechts listet in einer Fußnote mehr als ein Dutzend Werke auf, die zwischen 1471 und 1739 erschienen sind und Lebens- und Werkbeschreibungen von gelehrten Frauen, Schriftstellerinnen und Philosophinnen enthalten. Eines davon ist die Geschichte der Philosophinnen von Gilles Ménage aus dem Jahr 1690. Ménage war ein umfassend gebildeter Literatur- und Rechtswissenschaftler, der sein Brot im Dienst der Kirche verdiente, aber vor allem in den intellektuellen Salons im Paris des 17. Jahrhunderts verkehrte – etwa im Kreis der sogenannten „Précieuses“ um die Marquise de Rambouillet. Viele der im Frankreich des 17. Jahrhunderts zahlreicher denn je zuvor an die Öffentlichkeit tretenden weiblichen Intellektuellen und Schriftstellerinnen kannte er persönlich; besonders eng befreundet war er mit der Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Dacier.
Bei der Lektüre des spätantiken Kompendiums Leben und Meinungen berühmter Philosophen von Diogenes Laertius fiel Ménage auf, dass die Frauen nur am Rande vorkamen, und er entschloss sich, einen Ergänzungsband zu schreiben. Für seine 1690 erschienene, Anne Dacier gewidmete Historia mulierum philosopharum wertete er an die 130 antike Quellen aus und versammelte 65 vorwiegend antike Denkerinnen, fein säuberlich geordnet nach Schulen: Pythagoreerinnen, Epikureerinnen Platonikerinnen … Gelegentlich erwähnt er Werke, manchmal ist auch einiges über das Leben bekannt – aber oft sind es nur kürzeste Notizen, manchmal kaum mehr als ein Name, der überliefert ist: „Kleaichma, die Schwester des Lakoniers Autocharidas“.
Mehr als bärtige Männer
Noch gründlicher und mit Rückendeckung einer deutlich weiterentwickelten Philologie geht zwei Jahrhunderte später Josef Calasanz Poestion vor, seines Zeichens Direktor der Bibliothek des Ministeriums des Inneren in Wien (von 1888 bis 1920) – ein studierter Germanist und Altphilologe, der, wenn überhaupt, für seine skandinavistischen Werke erinnert wird. 1876 veröffentlichte er ein Werk über Griechische Dichterinnen, einige Jahre später auch eines über Griechische Philosophinnen (1882). Darin trägt er mit großer Sorgfalt alles zusammen, was er finden kann an biografischen Informationen und literarischen Zeugnissen, und das ist eine ganze Menge: 500 Seiten dick ist der Wälzer, den er dem geneigten Publikum vorlegt. Poestion versammelt nicht nur die spärlichen Lebensdaten und Zitate oder Werkhinweise, sondern auch was er an Literatur über die gelehrten Frauen in Griechenland findet – Gedichte, Liebeslieder, Lobeshymnen. In einer ausführlichen Einleitung unternimmt er es außerdem nachzuweisen, dass der Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit durchaus nicht ganz Griechenland betroffen habe, sondern vor allem ein Spezifikum des „jonischen resp. attischen Volksstammes“ gewesen sei.
Vom kulturell dominanten Athen mögen wir vielleicht die meiste Nachricht haben; aber die dortigen Sitten waren nicht repräsentativ. Anderswo war es Frauen durchaus möglich, Bildung zu erlangen und zu philosophieren, ohne dafür den Berufsstand der Prostitution auf sich nehmen zu müssen. Auch wenn wir uns also meistens nicht mehr daran erinnern, weil die Geschichte es über die Jahrhunderte immer wieder vergessen hat: selbst im antiken Griechenland war Philosophie nie nur das Geschäft alter bärtiger Männer. Davon zeugen Poestion und Ménage – vor allem aber Leontion, Hypatia, Theano, Myia, Timycha. Was genau sie dachten, wissen wir leider nicht mehr. Dass sie aber aktiv als Philosophinnen öffentlich wirkten, davon haben wir Kunde. •