Seyla Benhabib: „Geflüchtete wurden zu Symbolen der Entfremdung"
Wie lässt sich das Selbstbestimmungsrecht von Staaten mit dem Recht der anderen vereinen? In Zeiten globaler Migration ist Seyla Benhabib die Philosophin der Stunde: Im großen Werkgespräch plädiert die Universalistin für einen realitätsgesättigten Kosmospolitismus.
Die Räume des Berliner Wissenschaftskollegs sind hoch und lichtdurchflutet. „Es ist genau die richtige Zeit für einen Forschungsaufenthalt hier“, sagt Seyla Benhabib in akzentfreiem Deutsch am geöffneten Fenster und atmet tief ein. „Die Luft ist so klar.“ Die türkischstämmige Philosophin ist eine entschiedene Verfechterin der Freiheit – jedoch der Freiheit nicht nur einiger weniger, sondern aller Menschen. Seit gut 20 Jahren widmet sich die an der Yale University lehrende Denkerin den Themen Migration, Menschenrechte und Kosmopolitismus, doch auch als feministische Theoretikerin hat sich Benhabib einen Namen gemacht. Den dekonstruktivistischen Feminismus kritisiert sie in ihren Schriften scharf, weil er durch die Preisgabe des Subjektbegriffs Frauen nicht stärke, sondern schwäche. Wenn #MeToo eines zeige, dann doch wohl den großen Vorteil subjektbasierter Handlungsmacht – oder? Der Raum ist mit Frischluft gefüllt. Das Denken beginnt.
Philosophie Magazin: Frau Benhabib, Sie sind in der Türkei geboren und aufgewachsen, haben unter anderem in Deutschland studiert und leben derzeit in New York. Welche Rolle spielt der Begriff Heimat für Sie?
Seyla Benhabib: Oft wird Heimat mit ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit verwechselt. Für mich verhält sich das jedoch grundlegend anders und hat in erster Linie mit sprachlichen Fähigkeiten, Bildung sowie politischen und ethischen Einstellungen zu tun. Denn auch wenn ich in den verschiedensten Teilen der Welt gelebt habe und viel gereist bin, habe ich mich immer dort besonders zu Hause gefühlt, wo ich mich mit Menschen identifizieren und Freundschaften entwickeln konnte. An welchem Ort das geschehen ist, hat nie eine Rolle gespielt. Heimat ist für mich in erster Linie der Punkt, an dem man einen Anfang macht.
Die Geschichte Ihrer Vorfahren in Istanbul reicht bis ins Jahr 1492 zurück. Fühlen Sie sich der Türkei persönlich noch immer verbunden?
In jedem Fall, ja. Als nach dem 11. September 2001 die muslimische Welt von vielen Kommentatoren, besonders in den USA, pauschal mit Terrorismus gleichgesetzt wurde, bin ich öfters in die Türkei gereist, um gegen dieses Zerrbild zu kämpfen. Mit anderen Kollegen habe ich zahlreiche Seminare organisiert und Vorträge gehalten, um zu zeigen, dass Demokratie und Islam keinen Widerspruch darstellen.
Waren Sie und Ihre Kollegen erfolgreich?
Die muslimische Welt hat noch einen langen Weg vor sich. Die autoritären und autokratischen Machtstrukturen sind im Bewusstsein der Menschen fester verankert, als ich gedacht hatte. Und je unsicherer, komplizierter und fragiler die Weltlage wird, desto lauter wird der Ruf nach einem „starken Leader“ und einer „harten Hand“, die die Dinge wieder in Ordnung bringt. So erkläre ich mir die Tatsache, dass das türkische Volk Erdogans Regime unterstützt und ihm immer mehr Macht zuerkennt. Und zwar trotz aller Kenntnis der Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, die es verübt hat und noch immer verübt. Ich setze hier allerdings, zumindest was die Türkei angeht, große Hoffnungen in die Stadt Istanbul, die eine der intellektuell lebhaftesten Metropolen der Welt ist. Die meisten Akademiker dort sprechen zwei bis drei Sprachen und haben überall in der Welt studiert. Von dieser Stadt kann eine große verändernde und friedliche Kraft ausgehen.
Sie sagten, dass Heimat der Punkt ist, von dem aus man einen Anfang macht. Da scheint ein zentraler Gedanke der Philosophin Hannah Arendt durch, die den Menschen als „angefangenen Anfang“ beschreibt. Was fasziniert Sie an dieser Denkerin, der Sie ein ganzes Buch gewidmet haben?
Auch wenn meine Geschichte nicht mit ihrer identisch ist, da meine Eltern nicht im Holocaust umgebracht wurden, faszinierte mich die Parallelität unserer Biografien. Sie war eine Europäerin und Jüdin und saß zeitlebens zwischen allen Stühlen. Etwas, das ich sehr gut nachvollziehen kann. Denn auch wenn ich in Istanbul geboren wurde, haben wir zu Hause türkisch, französisch und auch spaniolisch gesprochen. Uns Kindern wurde vermittelt: „Ihr seid Europäer.“ Wie man sich vorstellen kann, war das ein Familienverständnis, das immer wieder zu Reibung mit der muslimischen Kulturwelt geführt hat. Als ich dann 1972 mein Studium in Yale aufgenommen habe und Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft zu lesen begann, hatte ich plötzlich ein ganz anderes Narrativ von Antisemitismus an der Hand, durch das ich viel über mich selbst und mein eigenes Leben verstanden habe.
Wie genau hat Arendt Ihnen dabei geholfen?
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