Edmund Burke und der Staat
Edmund Burke übte scharfe Kritik an der Französischen Revolution, da in der „abstrakten Vollkommenheit“ von Staaten ihre „praktische Untauglichkeit“ läge. Was damit gemeint ist? Wir helfen weiter.
Das Zitat
„Staaten sind nicht gemacht, um natürliche Rechte einzuführen, die in völliger Unabhängigkeit von allen Staaten existieren können und wirklich existieren und in viel größerer Klarheit und in einem weit höheren Grade abstrakter Vollkommenheit existieren. Aber eben in ihrer abstrakten Vollkommenheit liegt ihre praktische Unzulänglichkeit. Solange der Mensch ein Recht auf alles hat, mangelt es ihm an allem.“
Betrachtungen über die Französische Revolution (1790)
Die Relevanz
Welche unveräußerlichen Rechte stehen jedem Menschen zu? Seit der ersten Erklärung der Menschenrechte durch den persischen Herrscher Kyros im Jahr 538 v. Chr. durchzieht diese Frage die Geschichte des Denkens. In der Aufklärung wurde sie besonders vehement diskutiert, wie nicht zuletzt die Bill of Rights der US-amerikanischen Gründerväter und die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen der französischen Revolution belegen. Unter jenen Stimmen, die derlei Erklärungen mit Skepsis begegneten, ist die des irisch-britischen Philosophen Edmund Burkes die wohl bekannteste. Mit ihm lassen sich insbesondere zwei kritische Fragen von unverkennbarer Aktualität stellen. Erstens: Wo liegt der Unterschied zwischen ‚universellem Recht‘ und ‚individuellem Anspruch‘, wie er etwa in der jüngsten Wahlkampf-Debatte um ein ‚Recht auf Urlaubsflüge‘ durchschimmert? Zweitens: Inwiefern sind einzelne historisch und territorial begrenzte Staaten und Staatengemeinschaften dazu befugt, sich allgemeingültige Rechte auf die Fahne einer politischen Agenda zu schreiben? Eine Frage, die vor dem Hintergrund des jüngsten NATO-Abzuges aus Afghanistan eine moralisch-politische Brisanz besitzt.
Die Erklärung
Während sich Zeitgenossen wie Georg Forster und Immanuel Kant von der Französischen Revolution erst abwandten, als Schauprozesse und Guillotinierungen Alltag wurden, war Burkes Ablehnung von Anfang an prinzipieller Natur. Der konservative Denker zeigte sich überzeugt: Nationalstaaten lassen sich nicht auf philosophischen Überzeugungen gründen. Vielmehr erwachsen sie allmählich aus dem Nährboden tradierter Werte, repräsentierender Institutionen und einem Gefühl kollektiver Zugehörigkeit. Es liegt daher im Wesen eines Staates, dass er erstens nicht vollkommen ist, denn so organisch er gewachsen ist, so organisch wird er sein Antlitz auch in Zukunft verändern. Zweitens kann eine Nation weder in ihrem politischen Agieren noch in ihrer inneren Verfasstheit den berechtigten Anspruch erheben, die Menschheit in ihrer Universalität zu repräsentieren. Ein Staat fußt auf dem Vermächtnis der Ahnen und nicht auf philosophischen Abstraktionen. Der Anschluss an die historisch gewachsenen Strukturen einer Gesellschaft ist nach Burke die Voraussetzung für jede auch noch so grundlegende Rechtsgeltung. Deswegen verlieren die universell-menschlichen Rechte der französischen Nationalversammlung gerade durch ihre geschichtslose Universalität ihre Gültigkeit. Statt zur Stabilität der Gesellschaft beizutragen, öffnen sie dem politischen Missbrauch Tür und Tor und suggerieren kollektive Ansprüche, die mit den individuellen nie zur Deckung gelangen können. Denn: Ein totales Versprechen findet nie seine Einlösung. •
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