Nils Petter Molvær: „Wenn man sich immer nur an Dionysos hält, ist das extrem zerstörerisch“
Der norwegische Jazz-Trompeter Nils Petter Molvær gehört zu den besten seines Fachs. Anlässlich seines neuen Albums Stitches spricht er im Interview über die meditative Kraft eines Konzerts, die Kunst des fließenden Atmens und die Spannung zwischen Apollinischem und Dionysischem.
Herr Molvær, Ihr neues Album heißt Stitches, also „Naht“ oder „Stiche“. Mit Stichen kann man unterschiedliche Materialien vernähen; man kann damit eine offene Wunde schließen: Woran haben Sie gedacht?
Das schwingt alles mit, mir gefällt, dass der Begriff so unterschiedliche Bedeutungen hat. Ich versuche immer, für meine Alben und Songs vieldeutige Titel zu finden. Eine Ausnahme auf dem neuen Album stellt der Song „Funeral“ dar: Eine Beerdigung ist eine Beerdigung. Wir hatten gerade den Song aufgenommen, als meine Mutter gestorben ist, und ich musste an das Tragen des Sarges denken. Aber das Lied war schon vorher da — der Titel kommt immer erst später. Ursprünglich sollte die Platte „Nearly Invisible Stitches“ heißen, das ist ein Zitat aus einem Gedicht von Robert Pinsky. Ich bediene mich gern bei anderen Künstlern: Sylvia Plath, Joni Mitchell, David Sylvian. Ich stehle wie … wie reiche Norweger! (lacht)
Nearly Invisible Stitches ist nun der Titel der ersten Single, einer der stärksten Songs auf dem Album. Das Stück beginnt als Walzer — dann kommt ein Riss — und plötzlich klingt es wie ein Song von den Red Hot Chili Peppers. Die beiden unterschiedlichen Teile sind gewissermaßen miteinander vernäht. Beschreibt die Metapher der „Stitches“ auch Ihre musikalische Ästhetik?
Absolut! Daran habe ich vorher noch nie gedacht — aber das trifft es. Schon in den Neunzigern, als ich mein erstes Solo-Album Khmer aufgenommen habe, wollte ich Referenzen auf alle möglichen Musikrichtungen verarbeiten, sie aber zu einem organischen Ganzen verweben. Also gab es diese Nähte. Und ich arbeitete sehr, sehr lange daran, bis die Stiche richtig saßen.
Ihre Musik wirkt oft bipolar. Auf der einen Seite ist da diese zerbrechliche, melancholische Trompetenstimme — sie kann aber auch sehr brutal und schmerzverzerrt klingen. Ich musste an die beiden Charaktere denken, die sich der Komponist Robert Schumann ausgedacht und unter deren Namen er manchmal veröffentlicht hat: „Florestan“ verkörperte seine wilde Seite — „Eusebius“ hingegen die milde, friedliche. Denken Sie auch in solch unterschiedlichen Personae, wenn Sie komponieren?
Ich mag Kontraste. Zwischen Kontrasten entsteht Energie, das ist wie bei Yin und Yang, oder positiven und negativen elektrischen Ladungen. Mein Ziel ist, etwas zu schaffen, das brutal und schön zugleich ist — und wenn man beides miteinander verbinden kann, ist das großartig. Andererseits höre ich auch gerne Ambient-Stücke wie Brian Enos Thursday Afternoon: Das ist wie eine Wand ohne Gemälde. Oder sagen wir: Da ist ein Gemälde, und wir sehen der Farbe beim Trocknen zu. Aber bei meiner eigenen Arbeit suche ich die Gegensätze.
Man könnte auch an Friedrich Nietzsche denken, an die widerstreitenden Prinzipien aus der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Auf der einen Seite haben wir Apollo: Er steht für Klarheit, Rationalität. Auf der anderen Seite ist Dionysos, der Gott des Rausches und der Ekstase. Welchem der Beiden fühlen Sie sich eher verbunden?
Oh, Mann! (lacht). Manchmal Dionysos … manchmal eher Apollo. Aber wenn ich mich entscheiden und dann für den Rest meines Lebens bei meiner Entscheidung bleiben müsste — dann würde ich Apollo wählen. Wenn man sich immer nur an Dionysos hält, ist das extrem zerstörerisch. Ich versuche also, den goldenen Mittelweg zu beschreiten. Aber es ist schwer, auf diesem Pfad zu bleiben; vor allem, wenn man lange auf Tour ist …
Wenn Sie auf der Bühne stehen, wo ist dann Ihr Bewusstsein? Worauf ist Ihre Aufmerksamkeit gerichtet? Den Mund? Die Finger? Die Trompete? Den Klang an sich?
Ich glaube, es ist eine Kombination aus alldem. Wenn ein Konzert gut läuft, ist das wie eine Meditation: Man denkt nicht nach, man konzentriert sich nur. Mein Fokus ist, so präzise wie möglich auf den musikalischen Ausdruck zu achten. Ich versuche, nur diejenigen Noten zu spielen, die ich wirklich meine. Das ist wie neunzig Minuten Meditieren. Vor dem Konzert bin ich immer extrem nervös: Ich tigere dann herum wie ein Boxer, bevor er in den Ring steigt. Der Schlagzeuger Jon Christensen hat einmal zu mir gesagt: Es ist nur Musik — es ist keine Gehirnoperation! Aber wenn das Konzert gut war, empfinde ich danach eine große Entspannung.
Der Kontakt zwischen einem Blechbläser und seinem Instrument ist ja sehr unmittelbar: Der Atem strömt direkt ins Instrument …
Genau! Man spürt die Schwingungen des Metalls an den Lippen …
… und möglicherweise noch mehr: Das altgriechische Wort pneuma bedeutet nicht nur „Atem“, sondern auch „Geist“ oder „Seele“. Bringt das Trompetenspiel Seiten Ihres Charakters ans Licht, die sonst verborgen bleiben würden?
Ich denke, ja. In meiner Musik schwingt eine große Traurigkeit und Sehnsucht mit — aber ich bin eigentlich kein trauriger Mensch. Im vergangenen Jahr war ich schwer an Covid-19 erkrankt. Als ich danach in mein Studio ging, konnte ich zunächst einmal nur ganz lange Noten spielen. Ich habe einfach nur die Lungen gefüllt und wieder ausgeatmet, und mich dabei konzentriert. Es geht darum, gleichzeitig den Atem frei fließen lassen und die körperliche Spannung aufrecht erhalten. Das ist eine Art von Reinigung: Es reinigt den Geist und verscheucht Gedanken, die sonst verstörend sein könnten.
Haben Sie eine besonders innige Beziehung zu Ihrer Trompete?
Nicht mehr! Früher habe ich alles mögliche mit ihr gemacht, ich habe ein Saxofon-Mundstück auf die Trompete gesteckt oder den Sound durch alle möglichen Efffekt-Geräte gejagt, einfach nur, damit sie anders klingt. Inzwischen betrachtete ich sie als Werkzeug. Es ist einfach nur ein Stück Metall, in das ich hineinblase. In den Achtzigerjahren habe ich viel härter gespielt. Aber dann habe ich mit dem norwegischen Folk-Sänger Sondre Bratland zusammengearbeitet, wir haben in einer tausend Jahre alten norwegischen Stabkirche aufgenommen, und ich musste sehr zurückhaltend spielen. Da habe ich gemerkt, dass das viel näher an meiner Persönlichkeit ist. Ich lese sehr gern Lyrik: Und da ist es auch so, wenn man ein Gedicht zu dramatisch vorträgt, kann es seine Bedeutung einbüßen.
Kennen Sie den Dada-Dichter Kurt Schwitters?
Natürlich! Er hat ja sogar in Norwegen gelebt — ich bin erst vor Kurzem an seinem Haus vorbeikommen.
Haben Sie auf die Vögel geachtet? Als Kurt Schwitters in den Dreißigerjahren in Hjertøja war, hat er regelmäßig im Freien seine Ursonate vorgetragen. Vor ein paar Jahren war ein Berliner Künstler dort zu Besuch und hat die Gesänge der örtlichen Stare aufgenommen. Und er hat festgestellt: Die Tiere singen die „Ursonate“! Sie müssen die Laute von Generation zu Generation weitergegeben haben.
Fantastisch! Aber klar, Vögel können hervorragend Stimmen nachahmen. Vor vielen Jahren, ich war gerade erst nach Oslo gekommen, spielte ich im Oslo Rhythm’n’Blues Ensemble. Der Bassist galt als ein bisschen schwierig, und ich sollte ihn einmal vor dem Konzert Zuhause abholen. Ich kam in seine Wohnung, und er sagte: Ich muss noch kurz duschen. Ich saß also herum und wartete — und plötzlich fing der Vogel des Bassisten, so ein Graupapagei, schrecklich an zu husten! Es klang wie das morgendliche Abhusten von einem echten swijnehund — der Vogel hatte es von ihm gelernt! Aber klar: Der Bassist war auch eher auf der Dionysischen Seite. •
Nils Petter Molvaer, „Stitches“, erscheint am 27. August bei BMG Modern Recordings.
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