Überbrücke die Lücke!
Wenn Menschen sich nicht verstehen, ist der Streit vorprogrammiert. Es sei denn, sie greifen auf Kulturtechniken zurück, die den Umgang erleichtern. Wer sie beherrscht, kann sogar Genuss daraus ziehen.
Höflichkeit
Gesellschaften verfolgen stets das Ziel, sich selbst, ihre Mitglieder und die Welt zu verstehen. Was aber, wenn dieses Anliegen scheitert und kein Konsens erzielt werden kann? In einem solchen Fall reagieren Wahrheitsverliebte oft pikiert und versuchen verbissen, ihre Sache mit dem Hinweis auf Allgemeingültigkeit durchzupeitschen. Was wiederum die Skepsis der Skeptiker vergrößert und zur Suche nach – oft seltsamen – Gegenwahrheiten führt, die bockig und giftig vorgetragen werden. Dabei müsste das nicht sein, denn die Menschheit hat in den vergangenen Jahrtausenden raffinierte Kulturtechniken zum Umgang mit dem Unverständnis entwickelt. Sie ermöglichen ein Zusammenleben, ohne sich gegenseitig zu ignorieren oder zu ermorden.
Wer sich ein politisches oder ästhetisches Urteil gebildet hat, muss damit rechnen, auf jemanden zu treffen, der es anders sieht. Sollten Versuche, ihn umzustimmen, misslingen, bleiben zwei Möglichkeiten: Eskalation oder Höflichkeit. Letztere ist für alle angenehmer. Sie wahrt eine liebenswürdige Distanz, ist von einem freundlichen Ton getragen und sieht großzügig über abweichende Standpunkte hinweg.
Höflichkeit ist wohlwollende Ignoranz, die es ermöglicht, sich auf den anderen einzulassen. Sie schmiegt sich aus der Ferne an und verfolgt das Ziel, ihn zu schonen und gut aussehen zu lassen. Dafür muss man die heiklen Themen, die man nach einigen Karambolagen ausfindig gemacht hat, umschiffen oder – was noch interessanter ist – auf- statt angreifen, um etwas Hübsches mit ihnen anzustellen.
Die offene Konfrontation ist dagegen eher uninteressant. Sie bringt das Gespräch zum Erliegen, verwandelt es in eine zähe Debatte, deren Argumente man in der Regel schon kennt – ohne dass sie je das Verständnis gefördert hätten. Neues kommt dabei nicht heraus. Stattdessen regt man sich fürchterlich auf und geht im besten Fall als siegreicher Schlaumeier aus der Schlacht hervor. Freunde hat man sich damit nicht gemacht. Gelernt hat man auch nichts. Man hat sich nur den Abend verdorben. Umständliche Erklärungen, nagende Kritik und zähe Versuche, den eigenen Standpunkt durch Erläuterungen zu verteidigen, zerstören letztlich das gemeinschaftliche Band, das sie stiften sollen. Wo sich Verständnis nicht nach einigen Augenblicken einstellt, sollte man besser zur Höflichkeit übergehen und so tun, als verstünde man den anderen. So entsteht ein positiver Geist, eine Atmosphäre für wirklich aufregende Gedanken, die im Treibhaus des Wohlwollens besser gedeihen als in der kargen Wüste der Verständigung.
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