Feyerabend statt Fitness-Tracking: Wie wir uns aus der methodischen Selbstoptimierung befreien
Methoden und Tools zur Verbesserung der eigenen Fähigkeiten sind allgegenwärtig. Der Philosoph Paul Feyerabend fordert uns auf, diesen Optimierungswahn zu hinterfragen.
Unser digitales Zeitalter ist charakterisiert durch permanente Möglichkeiten der Selbstoptimierung. Ob Kalorien- und Schrittzähler per App oder die neue produktivitätssteigernde Morgenroutine – sie alle liefern uns das Versprechen, unter Anwendung einer bestimmten Methode unser Leben endlich effizienter, gesünder und erfolgreicher zu gestalten. Gefragte Ratgeber-Bücher hören auf Titel wie „die 1%-Methode“ oder „Tools der Titanen“. Die Botschaft dahinter ist so einfach wie verführerisch: Schlage einen bewährten Weg ein, und du wirst so „smart“ wie jene, die diesen Weg bereits gegangen sind. Diese Logik entbindet uns von der müheseligen eigenständigen Suche einer Lösung. Schließlich gibt es für jedes unserer persönlichen Ziele bereits den passenden „Lifehack“ – wir müssen diesen nur noch konsequent umsetzen. Doch die Verlockung dieser Erfolgsgarantie hat ihren Preis. Denn was als Hilfsmittel beginnt, kann schnell zum Dogma werden.
Feyerabends Kritik an universellen Methoden
Paul Feyerabend ist einer der schärfsten Kritiker des methodischen Vorgehens - und das ausgerechnet auf einem Terrain, das traditionell auf strenge Methodik und klar geregelte Verfahren setzt: Die Wissenschaft. In seinem Werk „Wider den Methodenzwang“ argumentiert er, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht durch die strikte Einhaltung festgelegter Regeln entsteht, sondern durch Vielfalt, kreative Ansätze und oft auch durch das bewusste Brechen von Konventionen. Tatsächlich zeigen historische Beispiele, dass selbst grundlegende Meilensteine der Wissenschaft wie die kopernikanische Wende oder die Relativitätstheorie nicht durch rigide Methodentreue, sondern durch unorthodoxes und teils irrationales Vorgehen erreicht wurden. Die Pointe seines Gedankens: Hätte die moderne Wissenschaft seit jeher ihre streng wissenschaftliche Methodik befolgt, hätte sie gar nicht entstehen können. Für den Wissenschaftstheoretiker Feyerabend ist jede Methode daher lediglich ein Werkzeug, das in einem spezifischen kulturellen und historischen Kontext entstanden ist und deshalb immer nur begrenzt anwendbar bleibt. Diese Erkenntnisse lassen sich auch auf den rund um die Selbstoptimierung herrschenden Methodenkult übertragen.
Die Dialektik der Selbstoptimierung: Aus Freiheit wird Zwang
Auf den ersten Blick erscheint Selbstoptimierung als ein Akt der Selbstermächtigung. Wir wählen eine Methode, die zu unseren Zielen passt und setzen sie konsequent um. Doch je weiter wir uns auf diese Logik einlassen, desto mehr verlieren wir den Blick für das große Ganze. Die Methode wird zum Selbstzweck. Statt uns zu befreien zwingt das methodische Korsett uns, unser Leben an einem von außen auferlegtem Konstrukt auszurichten.
Feyerabend warnte vor der Gefahr der Methoden, die schnell zur Ideologie mutieren können. In der Wissenschaft geschieht dies, wenn Forscher glauben, dass nur ein einziger Ansatz zu wahren Erkenntnissen führen kann. In der Selbstoptimierung passiert Ähnliches: Die Methode, die uns helfen sollte, wird zum Maßstab für Erfolg und Lebensqualität.
Auch die Selbstoptimierung hat sich längst zu einer Art Ideologie entwickelt, die uns vorschreibt, wie wir zu leben haben. Die jeweiligen Methoden, die uns eigentlich unterstützen sollen, definieren nun, was als wertvoller Lebensstil gilt. Erfolg wird daran gemessen, wie gut wir uns an die Regeln der Methode halten, nicht daran, ob wir tatsächlich glücklich oder erfüllt sind. Diese Verschiebung von Zielen zu Mitteln ist ein zentraler Punkt in Feyerabends Kritik. Er zeigt uns auf, wie leicht wir zur Geisel der Methodik werden können.
Die Befreiung durch Vielfalt und Widerspruch
Feyerabend fordert jeden einzelnen von uns auf, sich von der Tyrannei der Methode zu befreien und die Vielfalt der Wege zuzulassen. Sein provokantes Fazit lautet: „Anything goes“ - ein Slogan, der jedoch oft missverstanden wird. Der Philosoph plädiert hier nicht für Beliebigkeit im Vorgehen, sondern vielmehr für die Freiheit, verschiedene Ansätze unvoreingenommen zu verfolgen. Wahre Freiheit liegt nicht darin, einer vorgefertigten Anleitung zu folgen, sondern darin, diese Anleitungen selbst zu hinterfragen und zu entscheiden, was für uns funktioniert.
Doch wie lässt sich dies in die Praxis umsetzen? Eine Anleitung hierfür würde Feyerabends Gedanken natürlich ad absurdum führen. Deshalb stellt folgender Katalog kein Regelwerk dar, sondern einen Denkanstoß, der neue Möglichkeitsräume öffnen kann.
Zehn unkonventionelle Alternativen zur methodischen Vernunft
1. Das Bauchgefühl
Vertrauen Sie Ihrer Intuition! Manchmal weiß der Bauch längst, was der Verstand mühevoll über methodische Wege zu ergründen versucht. Lassen Sie sich von Ihrem inneren Gefühl leiten, anstatt immer nur der rationalen Logik zu folgen.
2. Rat vom Nichtexperten
Sie haben ein fachspezifisches Problem und sind auf der Suche nach Expertise? Warum fragen Sie nicht mal ihre Kinder oder den Nachbarn um Rat!? Unerwartete Perspektiven können überraschende Antworten liefern.
3. Spontanes Experimentieren
Brechen Sie mit gewohnten Mustern! Wählen Sie einen anderen Arbeitsweg oder verändern Sie bewusst ein altbewährtes Kochrezept. Indem Sie alltägliche Routinen verändern, öffnen Sie sich für neue, unvorhergesehene Erfahrungen und Perspektiven.
4. Das Zufallsprinzip
Manchmal führt der Zufall zu den besten Entschlüssen. Anstelle einer endlosen Pro- und Contra-Liste greifen Sie bei der nächsten Entscheidung doch mal zur Münze oder würfeln Sie!
5. Lernen durch Unsinn
Erforschen Sie scheinbar unvernünftige Konzepte und experimentieren Sie mit dem Unmöglichen. Schon mal eine Cheeseburger-Diät ausprobiert?
6. Transzendente Erfahrungen
Öffnen Sie sich für Erfahrungen jenseits der rationalen Welt. Ob durch Meditation, Kunst oder andere spirituelle Praktiken – indem Sie den Zugang zu transzendenten Erfahrungen suchen, können neue Erkenntnisse und Perspektiven jenseits des Logischen entstehen.
7. Parallelarbeit statt Fokus
Anstatt sich - wie häufig empfohlen - strikt auf ein einziges Ziel zu konzentrieren, springen Sie ganz bewusst zwischen verschiedenen Interessen und Aufgaben. Beobachten Sie, wie ungeplante Verknüpfungen entstehen und welche überraschenden Ideen dabei zur Entfaltung kommen.
8. Nicht nachmachen
Befolgen Sie bloß nicht diese Liste – machen Sie alles ganz anders! Dieser Appell wäre Feyerabend vermutlich am wichtigsten.
9. Mut zur Unvollständigkeit
Befreien Sie sich vom Dogma der Zielerreichung. Beobachten Sie was passiert, wenn Sie kurz vor Vollendung einer Aufgabe ganz abrupt.
Jeden dieser Ansätze könnte man paradoxerweise selbst wieder als Methode bezeichnen. Doch hierin liegt kein Widerspruch, sondern vielmehr Feyerabends zentrale Botschaft: Wir müssen nicht methodisches Denken per se verbannen, sondern in uns eine Pluralität an Denkweisen zulassen. Denn erst durch die individuelle Kombination unterschiedlichster Ansätze entsteht eine wahrhaft eigener Erfahrungsprozess. Dieser besteht aus intensivem Nachdenken, eigenständigem Ausprobieren, sowie dem manchmal schmerzhaftem Scheitern und regelmäßigem Reflektieren.
Im Vergleich zum blinden Befolgen vorgefertigter Regeln mag diese Alternative deutlich anstrengender sein, doch wohnt diesem Vorgehen eine Lebendigkeit inne, die echtes persönliches Wachstum ermöglicht.
Feyerabend ruft uns zu: Lasst euch nicht von fremden Methoden bestimmen - erschafft eure eigenen!
Na wenn das nicht mal ein echter „Lifehack“ ist… •
Julian Leithoff ist Experte für organisationale Transformationsprozesse und lebt in Wiesbaden. Er studierte Betriebswirtschaftslehre in Köln und Kapstadt sowie Philosophie in Hagen und Innsbruck.