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Bild: socolorization (CC BY-SA 4.0 DEED); Yaopey Yong (Unsplash)

Interview

Iris Därmann: „Kafka konfrontiert uns mit unserer Faszination an der Folter“

Iris Därmann, im Interview mit Friedrich Weißbach veröffentlicht am 05 April 2024 8 min

Nirgends treten die Abgründe von Macht so deutlich zutage wie in Kafkas „Strafkolonie“. Im Gespräch erklärt Iris Därmann, was die Erzählung über jene verrät, die Gewalt ausüben oder dabei zusehen.

 

Frau Därmann, Sie haben sich in Ihrer Arbeit mit Folter auseinandergesetzt – ein Thema, das Kafkas Erzählung In der Strafkolonie beherrscht. Was fasziniert Sie an diesem Text?

Mich fasziniert auf der einen Seite die literarische Kunst der zeitlichen Dehnung, mit der Kafka dieses spezifische Folter- und Hinrichtungsverfahren minutiös schildert. Man hat das Gefühl von Slow Motion: Dank der ausführlichen Betriebsanleitung der Foltermaschine durch den Offizier, der die Folter vorwegnimmt, bevor sie tatsächlich stattfindet, sieht man das Geschehen geradezu halluzinativ. Auf der anderen Seite interessieren mich die in die Geschichte eingetragenen Brüche und Kippmomente, die die Handlung in eine andere Richtung schwenken lassen. Nebenfiguren wie der Soldat und der Verurteilte werden zu Hauptfiguren. Umgekehrt wird die Hauptfigur des folternden Offiziers zur Nebenfigur, indem er sich selbst in die Foltermaschine spannt.

In Ihrem Buch Sadismus mit und ohne Sade beschreiben Sie de Sades gewaltvolle Literatur als ein „Körpergenre“. Was meinen Sie damit? Lässt sich das auch auf Kafkas Strafkolonie übertragen?

Der Begriff stammt von der feministischen Filmwissenschaftlerin Linda Williams. Sie hat drei Genres untersucht, die sie als Körpergenre bezeichnet: den Horrorfilm, das Melodrama und die Pornografie. Das besondere an diesen drei Genres ist, dass sie den Empfindungskörper der Zuschauenden in Form mimetischer Identifizierung adressieren. Wenn sie gut gemacht sind, haben sie die Kraft, im Zuschauenden die gleichen körperlichen Empfindungen und Reaktionen auszulösen wie bei den Akteurinnen und Akteuren auf der Leinwand: Bei Schauergeschichten bekommt man Gänsehaut vor Angst, beim Melodrama schluchzt man aus Liebesschmerz, beim Porno geht’s um sexuelle Erregung. Es ist das Kino der Körpersäfte, von Angstschweiß, Tränen und Sperma. Bei Kafka können wir keine melodramatischen oder pornografischen Bezüge erkennen, aber vielleicht ein exkrementales Körpergenre. Denn in der Strafkolonie geht es um koloniale Körper und deren Ausscheidungen – wie Erbrochenes, Schweiß und Blut – sowie um Schmutz, Fliegen und Abfall. Wenn wir uns auf diese detaillierten Schilderungen von Schmutz und Ausscheidungen einlassen, wird das Gefühl des Ekels in uns wachgerufen.

Und doch kommen in der Geschichte auch sadistische Lüste zum Ausdruck: etwa als der Offizier sich selbst auf die Folterbank schnürt und der ehemals Verurteilte sich vor Schaulust nicht abwenden kann. Von der Folter scheint eine gewisse Anziehungskraft auszugehen. Wie ist das zu erklären?

Angelehnt an Nietzsches Abhandlung Zur Genealogie der Moral, die auch eine wichtige Quelle für Kafka gewesen zu sein scheint, sowie an de Sade, unterscheide ich zwischen der alten Grausamkeit und einer neuen kolonialen Gewaltlust. Bei der mit der Bestrafung verknüpften Grausamkeit geht es darum, die Strafe in ein Äquivalenzverhältnis zu einem bestimmten Vergehen zu setzen. Die Strafe ist daher mit einer rituellen Form und einem spezifischen Strafmaß verbunden, die einzuhalten sind. Nietzsche spricht von einer intrikaten „Lust am Leiden-machen“ und am „Leiden-sehen“. Dabei handelt es sich nicht um eine sexualisierte Lust, sondern um die Lust, seine Macht „rechtmäßig“ an einem säumigen Schuldner auszulassen. Die koloniale Gewaltlust hat ihr Wesen hingegen darin, dass die kodifizierten Vorgaben darüber, in welchem Ausmaß rassistische Körperstrafen – insbesondere die Auspeitschung – an Versklavten „vorschriftsmäßig“ exekutiert werden sollten, von den Sklavenhaltern jederzeit überschritten werden konnten, ohne dass die Täter irgendwelche Sanktionen zu befürchten hatten. Dadurch wurden die kolonialen Körperstrafen ebenso maß- wie formlos, sie wurden zu exzessiver Folter und sexualisierter Gewalt. Bei Kafka gibt es neben der Strafe und der Folter, die er nicht eindeutig voneinander unterscheidet, sondern ineinander übergehen lässt, aber noch eine dritte Komponente.

Und zwar?

Die erlösende Gewalt. Die „Erlösung“ durch Gewalt zeichnet sich zur sechsten Stunde auf dem Gesicht des Gefolterten ab, an dessen Ausdruck sich die Zuschauenden ergötzen. Wie bei der Kreuzigung Jesu kommt hier eine religiöse Komponente ins Spiel. Wenn der Offizier von den Folterspektakeln der Vergangenheit erzählt, als die Hinrichtung noch großen Zuspruch erhielt und die Zuschauer sich massenweise drängelten, um dem Spektakel beizuwohnen, verwebt er drei Modi der Gewalt – Strafe, Folter, Kreuzigung – und die der korrespondierenden Lüste – Grausamkeit, Gewaltlust, Erlösung.

Welche Rolle spielt die Lust für jene, die Gewalt mitansehen oder darüber lesen?

Gewalt stiftet spezifische Gewaltgemeinschaften. Die Zuschauenden, sofern sie nicht eingreifen, sind ein konstitutiver Teil solcher Gemeinschaften. Sie verstärken die Gewalt durch partizipative Gewaltlust und entlasten diejenigen, die sie ausführen, von ihrer Verantwortung. Gewaltlust literarisch so auszugestalten, dass die Lesenden davon affiziert werden, macht diese nicht nur als solche sichtbar, sondern auch die eigene Gewaltlust unmittelbar spürbar. Als Leserin werde ich mit der ernüchternden Tatsache konfrontiert, dass ich selbst Genießende dieser Gewaltlust bin. Im Unterschied zu Statistiken und historischen Berichten über die kolonialrassistische Gewalt der Versklavung, wo wir bei der Lektüre immer sagen können: „das ist ja schrecklich, aber damit habe ich eigentlich nichts zu tun“, rufen Erzählungen wie die von de Sade ganz andere Formen der Selbstbefragung und Selbstkonfrontation hervor. Kafka versetzt uns in die Position der Zuschauenden und konfrontiert uns mit unserer eigenen Faszination an der ausgefeilten Folter der Strafkolonie.

Ist überliefert, ob Kafka sich mit den kolonialen Projekten seiner Zeit beschäftigte?

Die Literaturwissenschaftler Klaus Wagenbach und Walter Müller-Seidel haben den kolonialhistorischen Kontext von In der Strafkolonie erschlossen: Im Gefolge der Berliner Kongokonferenz kam um 1900 in Deutschland ein Diskurs über mögliche Deportationen von Straftätern in koloniale Strafkolonien auf. Der Kriminologe und Jurist Robert Heindl hat 1913 den Reisebericht „Meine Reise nach den Strafkolonien“ über Strafkolonien unter anderem in Russland, Australien und Neukaledonien publiziert. Kafka kannte diesen Text offenbar sehr gut. Heindl schildert darin zwei Hinrichtungsformen besonders ausführlich: die chinesische Folter, bei der der Körper des Verurteilten bei lebendigem Leibe den „Tod durch 1000 Schnitte“ zu erleiden hatte, und eine Guillotinierung. Wenn wir über die Mechanisierung des Tötens sprechen, müssen wir zuerst an die Guillotinierung denken, die die Sterbestunde und damit den Schmerz auf den Augenblick des herunterstürzenden Fallbeils reduzieren sollte. Damit verbunden war eine Demokratisierung der Hinrichtung. Denn vor der Französischen Revolution war der Tod durch das Schwert ein aristokratisches Privileg. Kafkas fingierte Tätowiermaschine vereint in gewisser Weise beide Hinrichtungsverfahren, insofern sie die Mechanisierung des Tötens auf einen Zeitraum von zwölf Stunden ausdehnt und so in Folter verwandelt.

Wieso sprechen Sie von einer Tätowierungsmaschine?

Kafka bezieht sich auf die zeitgenössischen Debatten um die Tätowierung. Ich sehe da drei Bezüge: erstens einen Verweis auf die polynesische Tätowierung. Seit den Reiseberichten von James Cooks Weltumseglung ist die tahitianische Praxis der Gesichts- und Ganzkörpertätowierung in Europa bekannt. Zweitens muss man die Geschichte der Eigentums- und Straftätowierung in den Blick nehmen, die bereits in der Antike praktiziert wurde, wo Versklavte mit dem Zeichen ihrer Besitzer, im Römischen Reich auch Verbrecher mit dem Siegel ihrer Strafe tätowiert wurden – meistens übrigens auf die Stirn, wo sie selbst das Stigma nicht sehen und lesen konnten. In der Zeit des transatlantischen Sklavenhandels wurden die Versklavten nicht tätowiert, sondern wie „Vieh“ bei jedem Kauf und Verkauf mit den Eigentumsstempeln der Chartergesellschaften oder ihrer neuen Eigentümer gebrandmarkt. Sie waren für die Versklavten, wenn sie auf dem Rücken gebrandmarkt wurden, ebenfalls nicht lesbar. Und die dritte Referenz, die mir wichtig erscheint, sind die viel rezipierten Bücher des italienischen Militärarztes Cesare Lombroso Der Verbrecher von 1894 und des Architekturkritikers Adolf Loos Ornament und Verbrechen von 1908, die die Tätowierung sowohl primitivisieren wie auch kriminalisieren. Demnach sind alle, die den schmerzhaften Prozess der Tätowierung auf sich nehmen, „degeneriert“, das heißt für Lombroso und Loos, entweder „Primitive“ oder Verbrecher.

Inwiefern kommen diese Diskurse in Kafkas Erzählung zum Ausdruck?

In Europa wurde seit 1900 der von Samuel O’Reilly erfundene elektrische Tätowierapparat verwendet. Kafkas Tätowierapparat wird mithilfe einer Batterie gleichfalls elektrisch betrieben und arbeitet daher „automatisch“. Die Folter besteht in einer stundenlangen Ganzkörpertätowierung, zunächst in Form von allerlei Verzierungen auf dem nackten Körper des Verurteilten. Dann, etwa zur sechsten Stunde, wird ihm das Urteil unauslöschlich in den Leib geschrieben. Wegen seiner Fesselung auf dem Folterbett kann auch er es nicht mit seinen eigenen Augen lesen, sondern nur mit seinen „Wunden“ entziffern. Kafka behandelt in verschiedener Hinsicht die Frage der Unlesbarkeit dieser Gewaltschrift, die von der Abgründigkeit der Foltergewalt zeugt.

Was drückt sich in der Verherrlichung der Maschine durch den Offizier aus?

Die Maschine ist eine Form der körperlichen Abstandnahme. Die Folter geht nicht mehr unmittelbar von einem gewalthabenden Körper aus, der sich gegen einen anderen Körper richtet, sondern es kommt etwas Drittes hinzu. Dadurch kann der Folterer selbst zum Zuschauer werden und nicht nur die Foltergewalt, sondern auch das reibungslose Funktionieren der Maschine genießen. Kafka führt allerdings vor, dass die Abtretung der Folter an eine „automatisch“ arbeitende Maschine nicht „funktioniert“, sofern der gewaltunterworfene Körper auf die Folter reagiert und die Maschine durch seine Körperausscheidung in Stocken bringt. Die Folter kann nicht fortgesetzt werden und die Erzählung nimmt eine unerwartete Wendung.

In der Geschichte selbst werden keine Hauttypen genannt. Lassen sich trotzdem rassifizierende Merkmale herauslesen?

Das ist eine wichtige Beobachtung: Die Personen haben keine Namen, sie werden auch nicht nach Hautfarben unterschieden. Kafka beschreibt den Verurteilten als jemanden mit verwahrlostem Aussehen und „wulstigen“ Lippen, der zudem nicht die Sprache des Offiziers spricht. Sein Verhalten wird als „hündisch ergeben“ und kindisch beschrieben. Indem Kafka ihn auf diese Weise primitivisiert, möchte er wohl bewirken, dass wir in ihm einen Einheimischen der Insel erkennen.

Würden Sie sagen, Kafkas Erzählung ist eine Kritik? Wenn ja, woran?

Sicher, auf den ersten Blick kann man die Geschichte als eine Kritik an der kolonialen Folter und Mechanisierung des Tötens lesen. Kafka verleiht den Nebenfiguren in einem bestimmten Augenblick eine gewisse Handlungsmacht. Er erzeugt eine Allianz mit den Minorisierten, die Nein sagen, aufbegehren und sich widersetzen. Und dennoch gibt es nicht den befreienden Durchbruch. Weder das Deportationssystem noch die Strafkolonie werden zu Fall gebracht. Die Befreiung bleibt letztlich in der Schwebe, der minimale Gehorsamsaufstand ist nicht von durchschlagendem Erfolg gekrönt.

Wie würden Sie Kafkas Methode der Kritik beschreiben?

Kafka praktiziert ein Verfahren der Inversion. Dabei ist der Perspektiv- und Positionswechsel entscheidend: Die Unterworfenen wechseln in eine Handlungsposition über. Derjenige wiederum, der die Macht und Gewalt innehatte, unterwirft sich selbst seinem Folterverfahren. Zugleich begehrt der Verurteilte, nach seiner Befreiung, Zuschauer der qualvollen Hinrichtung des Offiziers zu sein. Das zeigt, dass Kafka in dem Verurteilten niemanden sieht, der auf der moralisch und politisch richtigen Seite steht, sondern dass auch er weiterhin an einem Regime der Lust am Leidensehen partizipieren will. •

 

Iris Därmann ist Professorin für Kulturtheorie und Kulturwissenschaftliche Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Widerstands- und Gewaltforschung. 2022 wurde sie von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet. 2023 erschien ihr aktuelles Buch „Sadismus mit und ohne Sade“ bei Matthes & Seitz.

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