Julian Nida-Rümelin: „Europa muss eine Friedensmacht werden“
Man müsse bereits jetzt über die Zeit nach dem Ukrainekrieg nachdenken, fordert der Philosoph Julian Nida-Rümelin. In der Friedensordnung der Zukunft könnte Europa eine Schlüsselrolle einnehmen.
Herr Nida-Rümelin, jüngst haben Sie einen Sammelband mit dem Titel Perspektiven nach dem Ukrainekrieg herausgegeben. Wären Perspektiven für ein Ende des Ukrainekrieges zunächst nicht wichtiger?
Ich habe mich selbst dafür ausgesprochen, dass wir möglichst bald einen Waffenstillstand erreichen und dann unter Einbeziehung der Vereinten Nationen geklärt wird, wie es mit den Separatistengebieten im Osten und auf der Krim weitergeht. Und dennoch ist für eine Beendigung des Krieges nicht nur legitim, sondern vielleicht sogar ausschlaggebend, dass wir uns fragen: Wo wollen wir eigentlich hin? Was sind die längerfristigen Perspektiven? Da beginnt schon der Kampf der Narrative.
Welche Narrative liegen hier im Clinch?
Das eine Narrativ besagt, dass es sich bei diesem Konflikt um einen zwischen der Ukraine und Russland handelt, wobei Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine verübt und sich die Ukraine mit westlicher Unterstützung verteidigt. Daran ist zweifellos vieles wahr. Das andere Narrativ allerdings, das jetzt weitgehend in den Hintergrund geraten ist, lautet, dass es sich bei diesem Krieg um den vorletzten Akt einer über Jahrzehnte entwickelnden neuen geopolitischen Lage handelt. Und eine zentrale These in meinem Beitrag des von Ihnen angesprochenen Bandes lautet, dass wir es mit drei revisionistischen Großmächten zu tun haben, den USA, Russland und China, die schon seit geraumer Zeit mit dem Status quo unzufrieden sind und diesen zu ihren Gunsten verändern wollen. Auch wenn ich Henry Kissinger wegen der Kambodscha-Bombardements und einiger anderer Entscheidungen nun wirklich sehr kritisch sehe, ist er ein kluger Kopf und wir sollten seine Äußerung aus dem August dieses Jahres ernst nehmen: „Wir stehen am Rande eines Krieges mit Russland und China in Fragen, die wir zum Teil selbst verursacht haben, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie das Ganze enden wird und wozu es führen soll.“ Ohne Weitsicht werden wir aus diesem Konflikt nicht herauskommen.
Es ist also wichtig, über die Perspektiven nach dem Krieg nachzudenken, weil er sich einreiht in geopolitische Fragen, die diesem weit vorausgehen und sich auch mit dessen Ende nicht geklärt haben werden?
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