Krausismo
Lateinamerika ist Sehnsuchtsort, Politlabor und philosophisches Terrain, das sich stets ein wenig im Schatten seiner nördlichen Nachbarn befindet. Zu Unrecht, wie wir in unserer Reihe über den Subkontinent zeigen wollen. Heute stellen wir den deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause vor, der in Lateinamerika tiefe Spuren hinterlassen hat.
Zu den weltweit einflussreichsten deutschen Philosophen gehört Karl Christian Friedrich Krause. Dies verdankt sich nicht seiner Stellung in Deutschland, wo er nahezu unbekannt ist. Sondern seiner Wirkung in der spanischsprachigen Welt. In Spanien inspirierte er progressive Liberale, in Lateinamerika Sozialreformer, Revolutionäre und vermutlich sogar den Papst.
Krause wird 1781 im thüringischen Eisenberg geboren. Sein Vater ist Pfarrer. Im nahegelegenen Jena studiert er Philosophie, Mathematik und Theologie bei Schelling, Schlegel und Fichte, als dessen Meisterschüler er bald gilt. Er schlägt eine akademische Karriere ein, unterrichtet Naturrecht, Logik und Mathematik, verfasst drei Habilitationsschriften und bemüht sich um eine Professur. Doch weder in Dresden noch in Berlin, Göttingen oder München hat er Erfolg. Freimaurer, zu denen er selbst einmal gehört hat, die sich jedoch von seinem religiösen Pathos abgestoßen fühlen, sollen dafür ebenso gesorgt haben, wie Obrigkeiten, denen er als Aufrührer galt. Den einen war er nicht progressiv genug, den anderen zu progressiv. Zwischen allen Stühlen führt er das Leben eines einsamen Privatdozenten, der sich jedoch vom beruflichen Misserfolg nicht beirren lässt. Im Stillen entsteht ein Werk, das mehr als 250 Bücher und Aufsätze umfasst und neben Philosophie, Theologie und Rechtstheorie auch Fragen der Kunst, Musik und Architektur behandelt. Als er 1832 in München stirbt, gerät es zunächst in Vergessenheit.
Harmonischer Rationalismus
Subkutan ist seine Wirkung jedoch immens. Neben Heinrich Heine und Gottlob Frege gehört auch Arthur Schopenhauer zu seinen Lesern. Mit ihm wohnt Krause zweitweise im selben Haus in Dresden. Sie sehen sich in der Bibliothek, tauschen Bücher aus und diskutieren philosophische Fragen. Sie teilen ein Interesse für altindische Philosophie. Krause lernt sogar Sanskrit, um die vedischen Texte im Original lesen zu können. Er integriert sie in seine Philosophie, die früh auf ein eigenes System abzielt, wie das unter deutschen Idealisten zu jener Zeit üblich ist. Doch im Gegensatz zu Hegel, Schelling und Fichte spielt bei Krause Gott eine größere Rolle – und die Frage nach dem richtigen Leben. Krause, dessen Texte ihn als romantischen Schwärmer ausweisen, ist der Auffassung, dass Philosophie das Leben verändern müsse. Damit bildet er das Scharnier zwischen den beiden großen philosophischen Lagern im Deutschland des 19. Jahrhunderts: den Systembauern Fichte, Hegel, Schelling und Marx und den Lebensphilosophen Schopenhauer und Nietzsche.
Krauses Lehre lässt sich unter dem Begriff „Pantheismus“ zusammenfassen: Die Welt befindet sich in Gott, der allerdings über sie hinausgeht. Er bleibt unbegreiflich, aber über die Erscheinungen bekommen wir Zugang zu ihm. Erst durch seine ordnende Hand kommt Harmonie in die Welt, er ist der Geist, der alles zusammenhält. Damit verbindet Krause die konkurrierenden Vorstellungen von Pantheismus und Theismus, Gottes Immanenz und Transzendenz, und in der wissenschaftlichen Konsequenz: Natur-, Gesellschaftswissenschaften und Theologie, die allesamt betrieben werden müssen, um Wissen von sich und der Welt zu erlangen. „Harmonischen Rationalismus“ nennt das Krause, dessen Ziel die Vereinigung des Widerstreitenden ist. Mehr noch als Hegel arbeitet er an der großen Synthese. Die sozialphilosophischen Konsequenzen hat er in mehreren Schriften ausgearbeitet: Krause befürwortet den Zusammenschluss der Menschheit in einem „Weltbund“ oder auch „Erdrechtsbund“. Dieser umfasst nicht nur, wie damals üblich, die Männer Europas, sondern auch Frauen, Kolonisierte und die Natur, die Krause im Gegensatz zu Fichte für lebendig hält. Sie alle sind designierte Rechtssubjekte, die das „dritte Hauptlebenalter“ einläuten, die Zeit der großen Vereinigung, die Rückkehr in den Urzustand kosmischer Harmonie auf höherer Stufe des Bewusstseins: Weil durch alle derselbe Gott strömt, bedeutet ein Angriff auf andere einen auf mich. Solidarität ist kein ethischer Zusatz, sondern eine ontologische Notwendigkeit, die wissenschaftlich erkannt werden muss: „Es ist mir daher, sofern ich gottähnlich gerecht gesinnt bin, gleich viel, es ist mir gleich wichtig und heilig, ob ein Recht mir oder einem anderen geleistet wird. Denn Gottes Sache, das eine Recht, ist auch als Gottes Sache Sache jedes Gerechten“. Daran schließt der Erdbund an: „Die Menschheit soll Ein organisches, harmonisch belebtes Ganzes seyn. Alle Menschen sollen wie Ein großer, allgebildeter Geist, wie Ein schöner, allgesunder, kraftvoller Leib, wie Ein großer Mensch leben, in Einer allseitigen Harmonie mit Gott, mit Vernunft, mit Natur, in vollendetem inneren Ebenmaß und Wohlordnung, in Tugend, Gerechtigkeit, Innigkeit und Schönheit.“
Reform der Seele
In Deutschland, wo man sich seinerzeit um nationale Abgrenzung und Naturplünderung bemühte, war damit erst einmal kein Durchkommen. Doch Krause hatte Schüler, die ins Ausland gingen. Einer von ihnen ist Heinrich Ahrens, der in Paris und Brüssel Vorlesungen über Krause hält. Unter seinen Hörern sind auch spanische Studenten, die Krauses Schriften übersetzen. In Madrid gelangen sie in die Hände des Juristen Julian Sanz del Río. Er ist davon so begeistert, dass er 1843 nach Heidelberg geht, um beim Krause-Schüler Karl Röder zu studieren. Zurück in Madrid vertieft er sich in Krauses System und überträgt dessen bekanntestes Werk Das Urbild der Menschheit ins Spanische. Es erscheint 1860 unter dem Titel Ideal de la humanidad para la vida und wird zum Gründungsdokument des Krausismo. Liberale, Republikaner und Progressive berufen sich nun auf den deutschen Philosophen, dessen Verbindung von Christentum und Aufklärung, Rationalismus und Spiritualität ihnen allianzfähig erscheint. Bis zum Putsch des General Franco bleibt Krause so etwas wie der Staatsphilosoph des liberalen Spaniens. Von dort gelangt er in die ehemaligen Kolonien.
Zunächst nach Argentinien, wo 1916 mit Hipólito Yrigoyen ein Krausist Präsident wird – der erste wirklich demokratische in der Geschichte des Landes. Yrigoyen bricht die Macht der Oligarchen in Buenos Aires und initiiert eine Reihe von Reformen, die dem Gedanken der „harmonischen“ Gesellschaft folgen: Er führt das allgemeine Wahlrecht ein, einen Mindestlohn, Rentenansprüche und verstaatlicht die Ölreserven. Außenpolitisch vertritt er die Idee eines Völkerbundes. Auf Yrigoyen sollte sich später Che Guevara berufen, der die Sozialreform zur Revolution zuspitzt und nach Kuba bringt. Auch in anderen Ländern gelangen Krausisten an die Macht: Der uruguayische Präsident José Batlle y Ordóñez bringt Krauses Lehre gegen den verbreiteten Positivismus in Stellung, dessen moralischer Relativismus zum Autoritarismus neigt. Gleichzeitig lockert er den Dogmatismus der katholischen Kirche und gelangt zu einer freieren Moralität, die im Einklang mit Krauses vorinstitutioneller Spiritualität steht. Diese spielt 1945 für den ersten demokratisch gewählte Präsident Guatemalas ebenfalls eine große Rolle. Juan José Arévalo hat in Argentinien Philosophie studiert und die krausistische Idee eines geistigen Sozialismus entwickelt, der die Menschen „seelisch und geistig befreien“ soll. Als Befreiung dürften viele Argentinier auch die Präsidentschaft Raul Alfonsíns empfunden haben. Nach dem Sturz der Militärdiktatur wird er 1983 mit einem krausistischen Programm gewählt. Der Krausismo wird immer dann wichtig, wenn ein Neuanfang gewagt werden soll.
Auch subpolitisch ist Krauses Erfolg nicht mehr aufzuhalten. Generationen von Philosophen und Pädagogen, Juristen und Theologen in Argentinien, Bolivien, Peru und Mexiko denken krausistisch. Schriftsteller wie der kubanische Nationalheld José Martí sind ebenfalls Anhänger des thüringischen Systembauers, der indirekt auch Fidel Castro beeinflusst hat. Die Kubanische Revolution geschah im Geist des Krausismo, der in Amerika im Unterschied zu Spanien eine stärkere Affinität zur Revolte entwickelte – obwohl Krause der Meinung war, „alles Bestehende“ müsse „mit zarter Hand geändert werden“. Ironischerweise lässt sich auch auf der Gegenseite der Revolution, im Vatikan, die Spur Krauses nachweisen. Über die Befreiungstheologie gelangte er ins geistige Umfeld von Papst Franziskus, dessen Enzyklika Laudato si erstaunliche Übereinstimmungen mit Krauses Kosmopolitismus und Naturphilosophie aufweist. Ein Lateinamerika ohne Krause, so scheint es, lässt sich heute kaum noch denken.
Zwischenphilosoph für die Nachmoderne
Wie erklärt sich nun dieser außergewöhnliche Erfolg dieses zu Lebzeiten unbekannten Mannes in einer Region, die er nicht besucht und für die er sich nicht interessiert hat? Zunächst dürfte Krauses philosophisches Brückenbauprogramm attraktiv gewesen sein: Zwischen Glauben und Wissenschaft, Aufklärung und Spiritualität, System und Lebenswelt errichtete es ein Ideenfundament, das den Bedürfnissen Lateinamerikas entgegenkam. Der Subkontinent befand sich ebenfalls in Zwischenwelten: Zwischen europäischen und indigenen Einflüssen, Zentrum und Peripherie der Weltwirtschaft, Subjekt- und Objektgefühlen, Wissenschafts- und Gotteshoffnung, war hier die Euphorie über die Aufklärung nie ganz so groß wie in Europa. Man könnte auch sagen: Es gab ein feineres Gespür für deren Dialektik.
Dazu gehörte zweitens ein Bewusstsein für die koloniale Frage. Lateinamerika rang mit alten Abhängigkeiten von Europa und neuen von den USA. Krause sah darin ein Unrecht. Bei Hegel, der die Auffassung vertrat, Afrika sei nicht genügend in die Geschichte eingetreten, muss man schon alle dialektischen Kniffe anwenden, um in seine Lehre einen postkolonialen Anteil hineinzuschmuggeln (Reagierte sein Herr-Knecht-Kapitel vielleicht auf die Revolution in Haiti?, wie Susan Buck-Morss mutmaßt). Bei Krause hingegen steht es wörtlich: Er fordert Kompensation für koloniales Unrecht und hält den Glauben an „die Eine unteilbare Menschennatur“ hoch. Interessant ist hierbei auch seine Rezeption der indischen Philosophie. Sie zeugt von einem horizontal-egalitären Kosmopolitismus, während Hegel einen vertikal-hierarchischen vertrat: Der Weltgeist wandert von Ost nach West und sucht sich progressive Wirtsvölker, die zur Erfüllung ihrer Rolle von Gewalt Gebrauch machen. Anschließend lässt der Weltgeist sie fallen und nimmt ihre Errungenschaft mit auf die nächste Stufe. Bei Krause wird niemand fallengelassen. In seine Philosophie fließen alle übrigen Philosophien ein, um das jeweils Beste herauszuschälen und in einen Dialog zu bringen. So kann der Weltgeist nicht, wie bei Hegel, im Germanentum kulminieren, sondern nur in einem harmonischen Weltbund, der „die widerstreitenden Systeme aller Zeiten und Völker“ vereinigt.
Drittens ist es kein Zufall, dass Krause von einem „Bund“ spricht. Er dachte weniger vom Staat her, sondern von der harmonischen Gesellschaft. Bei Hegel ein Beinahe-Gott, ist der Staat bei Krause etwas Nachrangiges, auf das man sich nicht verlassen kann. Dies passt zu Lateinamerika, wo der Staat traditionell schwach ist. Und es passt auch zu einer Epoche nach dem Nationalstaat, die Krause antizipierte und die inzwischen angebrochen ist. Es wäre also möglich, Krause zu reimportieren und ihn, wie der Philosoph Nicolai Hartmann forderte, als vierten deutschen Idealisten in eine Reihe mit Fichte, Hegel und Schelling zu stellen. So wie Aristoteles im Mittelalter nach Osten zog, um in arabischen Übersetzungen zu überwintern, bevor er nach Europa zurückkehrte und ein neues philosophisches Zeitalter einläutete, musste Krause nach Westen ausweichen, um die Moderne zu überstehen. Diese Exilierung in Lateinamerika hatte eine Verschiebung von der Metaphysik zur Sozialphilosophie zur Folge. Krauses Überlegungen zum „Panentheismus“, zum „Om“-, „Or“- und „Urwesen“ oder „Samklang“ werden im Krausismo nur gestreift. Dabei gehört beides zusammen. Die Idee vom Menschheitsbund und von der Allianz mit der Natur wurzelt in der Metaphysik, der Kosmopolitismus im kosmischen Verständnis des Menschen, der durch Gott mit allen Kreaturen verbunden ist, Gott aber nicht greifen kann, weshalb herrenmenschlicher Hypersubjektivismus bei Krause keine Chance hat. So wäre es an der Zeit, den ganzen Krause zu entdecken. In der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden liegen noch viele Meter unerschlossenes Nachlass-Material, von dem die Menschheit, an die Krause so sehr glaubte, zehren könnte. •