Lob des Zauderns
Wer zweifelt, gilt meist als entscheidungsschwach. Dabei liegt gerade im Herauszögern des Entweder-Oder die wahre Potenz. Zeit für eine Ehrenrettung.
Zu zögern bedeutet, den unreflektierten Fluss gewohnheitsmäßigen Handelns zu unterbrechen, das System zu stören. Zögern heißt: pausieren. Sich Zeit für eine erneute Betrachtung nehmen, mit der Möglichkeit des Perspektivwechsels spielen, die Konsequenzen einer bestimmten Vorgehensweise überdenken und sich Alternativen vor Augen führen. Als solches ist das Zögern nicht nur Bedingung für eine gründliche Analyse. Es ist, viel grundsätzlicher, der Ort der Vorstellung, der Imagination, des Wunderns und Denkens; der Ort also, an dem Philosophie stattfindet. Von unmittelbarer, spontaner Handlung abzusehen, sich in einer Ökonomie der Zurückhaltung zu üben, schafft die Gelegenheit des Zweifels und der Sammlung. Anstatt aus Gewohnheit zu handeln oder eines anderen Führung unkritisch zu befolgen, können wir den Raum des Zauderns nutzen, um Verantwortung für die nächsten Schritte zu übernehmen. Daher ist die Fähigkeit zu zögern nicht etwa ein Ausweichen vor Verantwortung oder gar eine Charakterschwäche, sondern ureigene Bedingung von Individualität und verantwortlichem Verhalten – Grundvoraussetzung also für Mündigkeit.
Zu zögern bedeutet, sich selbst zu erlauben, den reizvollen Moment vor einer bestimmten Handlung zu genießen, ihn auszudehnen, bevor es kein Zurück mehr gibt. Dieser Moment „davor“ ist eine Zeit mächtiger Latenz, wenn alle Energie und alle Informationen, die für eine Entscheidung nötig sind, gesammelt und verstärkt werden. Das Potenzial zu handeln oder nicht zu handeln, ist genau in diesem Augenblick am absolutesten. Hier, während dieser Zeit der Latenz und Handlungspotenz, triumphiert das Sein über das Tun. Die Existenz ist intensiv für alles Mögliche offen, denn bis jetzt wurde ja noch nichts entschieden. Gewiss: Zum Verharren in dieser Offenheit des Zögerns sind starke Nerven vonnöten. In der Sofortlogik des Digitalen schnell etwas zu twittern, ist oft einfacher, angenehmer, als sich zurückzuhalten und zu zweifeln: Soll ich? Soll ich nicht? Wer zögert, befindet sich in einem Zustand der Aufregung und erhöhten Wachsamkeit der Sinne, in einem Zustand des Seins in seiner vielleicht intensivsten und risikoreichsten Ausprägung.
Produktive Wachsamkeit
Mit Inaktivität oder Untätigkeit hat das Zögern somit nichts zu tun. Denken wir nur an das Zucken des Schwanzes einer Katze (eigentlich ist es ja das Beben ihres ganzen Körpers), bevor sie sich auf eine Beute stürzt. Oder an die fast unmerkliche Verzögerung, den winzigen Moment des Innehaltens im Beat eines versierten Schlagzeugers, der den Rhythmus der Musik damit so viel besser zur Geltung bringt. Im Lichte dieser Beispiele wird das (Hinaus-)Zögern zur Konzentration von Zeit und Potenzial, zu einer derartigen Konzentration von Spannung, die nicht etwa den Fluss des Handelns unterbricht, sondern Grundvoraussetzung dafür ist, den günstigsten Moment abzupassen, um die Trommel zu schlagen oder sich auf seine Beute zu stürzen. So gesehen kann Zögern in bestimmten Situationen als Strategie betrachtet werden, die, weit davon entfernt, einen Prozess nur zu verlangsamen, tatsächlich eine Qualitätsverbesserung hervorruft.
Wer zögert, richtet die eigene Aufmerksamkeit auf das innere Selbst, auf die Stimme(n) der Vernunft, des Zweifels, aber auch auf die Signale des Bauches und des Herzens – diese etwas „verrückten“ Quellen, die letztlich unsere Motivation befeuern, dieses oder jenes zu tun. Für den Philosophen Jacques Derrida beinhaltet nämlich jede Entscheidung einen Moment von „Verrücktheit“, denn jede Entscheidung ist irgendwo auch ein Glaubensakt, ein Sprung jenseits von rationalem Kalkül. Nach Derrida ist eine Entscheidung sogar nur dann verantwortlich, wenn sie „die Subjektivität meines Subjekts überrascht“ und die Konsequenzen der Entscheidung nicht vorhersehbar sind, wie Derrida in seiner Schrift „Politik der Freundschaft“ ausführt. Diese Hinwendung zur inneren Stimme erfordert eine gewisse Aussetzung der Handlung und die besondere Fähigkeit, zuzuhören und zu antworten – und zwar dem Selbst als einem anderen. Diese Fähigkeit (das Selbst als anderen zu hören und zu erkennen) entspricht der Bedingung allen moralischen und ethischen Verhaltens: die Fähigkeit nämlich, den anderen als sich selbst zu betrachten.
Wie reife Äpfel
Insofern meint Zaudern auch nicht, in Kontakt mit dem eigenen „wahren“ Selbst zu treten. Es ist eher so, dass das Zögern, von dem wir nun wissen, dass es komplexer ist als ein bloßes Langsamerwerden oder eine Unterbrechung, ein Zittern und Oszillieren hervorruft: zwischen dem Hören des Selbst als anderem und dem Hören des anderen als Selbst. Allein: Man darf es mit dem Zögern auch nicht übertreiben. Sicherlich ließe sich ein pathologischer (und schrecklicher) Zustand vorstellen, in dem Handeln überhaupt nicht mehr möglich ist, da nichts mehr das Zögern unterbricht. Das Zögern (wie übrigens auch das Handeln) ist eben nur eine Tugend im Sinne der altgriechischen sophrosyne: Wahren Wert erhält auch diese Haltung nur, wenn sie von der Besonnenheit der Mäßigung gekennzeichnet ist.
In einer Welt, in der enormer Handlungsdruck herrscht, ist es an der Zeit, den philosophischen Muskel des Zögerns auszubilden und zu stärken: als jene Tugend, unser Tun zu unterbrechen, um unser Ohr auf das Offene und noch Unvorstellbare zu richten. Was wäre, wenn …? Genau hier liegt die Keimzelle für eine ausgewogenere und besonnenere, weniger hektische und neurotische Daseinsform. Für ein Sein, das rhythmisch auf die Stimme des anderen tief in uns eingestimmt ist; ein Sein, das ein Ohr hat für die unendlichen Möglichkeiten der Offenheit. Ein Sein, das sich ausweitet in einem Raum, der uns genügend Zeit lässt für Entscheidungen, die dann vom Baum fallen wie ein reifer Apfel. Aber halt! Käme dies nicht einer ethischen, politischen Revolution gleich? •
Alice Lagaay lehrt Ästhetik und Kulturphilosophie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg.