Wer war Thomas Mann? Sechs philosophische Deutungen
Thomas Manns Romane und Erzählungen vereinen Realismus und Romantik, Humanismus und Sozialismus, Spielerei und Platonismus. Heute vor 150 Jahren wurde der Dichterphilosoph geboren.
In der Philosophie wirken Schriftsteller oft über Bande: Weniger durch eigene Weltdeutungen, denn als Materiallieferanten für Interpreten. Ihre Romane, Gedichte und Dramen drücken ein Zeitgefühl aus, das der Begriffsbildung voranleuchtet und Stoff zum Nachdenken liefert. Dieser Stoff verändert sein Aussehen im Schein der jeweiligen Lage, weshalb Schriftsteller-Interpretationen ziemlich gute Zeitgeistometer sind. Ein schönes Beispiel hierfür ist die philosophische Thomas-Mann-Rezeption, die zugleich eine Geschichte der geschichtsphilosophischen Selbstauskünfte ist.
Auf der Suche nach dem verlorenen Bürger
Da ist zum einen Georg Lukács, den Thomas Mann in seinem Zauberberg als katholischen Kommunisten Naphta auftreten ließ. Lukács sah sich offenbar gut getroffen und verehrte den politisch anders gepolten Mann zeit seines Lebens. In einem Gruß zum 70. Geburtstag deutet er Manns Werk als rastlose „Suche nach dem Bürger“: In den Romanen und Erzählungen treten lauter schlingernde Bürgerfiguren auf, die mit Krankheit, Tod, Sehnsüchten nach unstetem Leben oder Abstiegsängsten konfrontiert sind. Nur selten gelingt die Balance. Darin sieht Lukács eine „Wirklichkeitstreue, ja Wirklichkeitsandacht“, die das spätbürgerliche Zeitalter ungeschönt zeigt. Anders als Goethe formuliere Mann keine Utopie, keine falsche Versöhnung mit der Wirklichkeit. Indem er seine Bürger reihenweise scheitern lässt, treibe er die „Dekadenz [...] gestalterisch auf die Spitze“ – bis sie abbricht. So gelinge es Mann, seinen mitunter reaktionären Ansichten zum Trotz, eine progressive Form zu finden, eine Ethik in der Ästhetik.
Romantiker
Ganz anders hat die Philosophin und Germanistin Käte Hamburger Thomas Mann gelesen. Seit den frühen 1930er-Jahren deutete sie ihn als Romantiker, der sich gerade nicht der Unbarmherzigkeit der Welt aussetze, sondern traumversunken und innerlich auf versteckten Pfaden wandele, die zu einer anderen, tieferen Wirklichkeit führen können. Das Morbide und Kranke, Schmachtende und Manierierte, das Nichthandeln und die Ironie gegenüber einem Weltlauf, an dem man ohnehin nicht rütteln könne, zeichnen die Werke Thomas Manns aus. Stattdessen gehe es ihm um Gestaltung des eigenen Lebens, wie Hamburger anhand der Joseph-Romane illustriert. Mann zeigte sich in einem Brief dankbar, dass Hamburger seine „Zugehörigkeit zur deutsch-idealistisch-klassisch-romantischen Tradition so überzeugend nachgewiesen“ habe.
Neuhumanistischer Optimist
Weniger romantisch als praktisch-zielgerichtet hat Siegfried Marck Thomas Mann gelesen. Der in den USA exilierte Philosoph interpretierte Mann 1938 als Verkörperung seiner eigenen „neuhumanistischen“ politischen Philosophie, gar als Apostel der Zukunft. Was wie romantische Archaik aussehe, sei in Wirklichkeit die Suche nach einer verschütteten Überlieferung, nach der „Ebenbildlichkeit“ und „Gottesidee um des Menschen willen“. Manns große Deutschland-Romane Buddenbrooks, Der Zauberberg und Doktor Faustus ergeben laut Marck eine „Trilogie des Pessimismus“, an deren Ende der Abschied von einer alten Welt stehe – und die Hinwendung zu einem liberalen, „sozialistischen Humanismus“, einer philosophisch veredelten Sozialdemokratie. Mann selbst zeigte sich nicht gänzlich überzeugt von dieser Deutung. In einem Brief an seine Tochter Erika schrieb er: Bei Marck sei er vollständig auf die Seite Settembrinis gewechselt, des linksliberalen Gegenspielers zu Naphta aus dem Zauberberg. Beides will Mann nicht sein.
Individualismus-Kritiker
Die vermutlich antiliberalste Mann-Deutung stammt von Wolfgang Harich. Der DDR-Philosoph und Literaturkritiker las in einer Besprechung aus dem Jahr 1946 den Roman Lotte in Weimar als Absage an den „verhängnisvoll antidemokratischen deutschen Individualismus“, der in Gestalt Goethes vorgeführt werde. Harich geht in seiner kommunistischen Umarmung sogar noch über Lukács hinaus, wenn er Mann als „vertriebenen Antifaschisten“ bezeichnet und ihm in einem Artikel anlässlich seiner Reise nach Weimar 1949 zuruft: „Das demokratische Deutschland“ – gemeint ist die Sowjetische Besatzungszone – „grüßt Thomas Mann“. „Mann, der sich in späten Jahren zum Sozialismus bekannte, fühlte sich durchaus verstanden, wie er in einem Brief an Harich zum Ausdruck brachte.
Ironischer Spieler
Jenseits der ideologischen Grabenkämpfe – wir befinden uns bereits in der Postmoderne – wähnte sich Hans Blumenberg mit seiner Mann-Deutung. Beide hatten in Lübeck dasselbe Gymnasium besucht, und seit Thomas Mann bei seiner Abiturfeier 1931 eine Rede hielt, war Blumenberg bekennender Mann-Fan. Allerdings mischte sich in diese Verehrung stets ein Gran Ironie, die Blumenberg sich bei Mann abgeschaut hatte. Was für Hamburger noch zum schwärmerisch-romantischen Treibstoff taugte, wird bei Blumenberg zum liberalen Heiltrunk: Manns ironische Verspieltheit halte sich die bedrückende Welt vom Leib. Selbst die Hinwendung zum mythischen Stoff, wie in den Joseph-Romanen, führe nicht zur Reaktivierung, sondern Relativierung von Wahrheitsansprüchen. Manns Utopie, so Blumenberg, bestehe letztlich im „Nicht-Besitz von Wahrheit“.
Spätplatoniker
Das geht dem Politikwissenschaftler Reinhard Mehring dann doch zu weit. Schließlich habe Mann, so schreibt er 2018, stets am Ideal des Dichterphilosophen festgehalten. Mehring liest Mann als Erben Platons, dessen „absoluter Roman“ sich dem Guten, Schönen und Wahren verpflichtet wusste. Seine Figuren, so oft sie auch scheitern mögen, sind bildungsbeflissene, das heißt entwicklungswillige Charaktere. Vermutlich ist es kein Zufall, dass Mehring, der im Zeitalter der Postfaktizität lebt, Blumenbergs verspielten Umgang mit der Wahrheit zurückweist. Damals mag der Anspruch auf Wahrheit als protototalitär gegolten haben, heute ist der Zweifel an der Wahrheit das größere Problem.
So war Thomas Mann schon vieles – ein Romantiker und Antiromantiker, ein individualistischer Humanist und Kommunist, ein ironischer Spieler und Spätplatoniker. Dass sich all das widerspricht und trotzdem plausibel ist, spricht nur für sein Werk. •