Antifragil durch Improvisation?
Unvorhersehbare Ereignisse bergen die Chance für kreative Spontaneität und nachhaltige Innovation. Aber unter welchen Voraussetzungen ist gelungene Improvisation möglich? Was ist das Geheimnis dynamischer Systeme?
Zurzeit sind wir alle gezwungen zu improvisieren – bei der Arbeit, zu Hause, in der Freizeit. Die meisten von uns denken sehnsüchtig an die Zeit danach, wenn wir wieder unseren alten Gewohnheiten folgen können, endlich wieder unsere Freunde umarmen dürfen, eng zusammengedrängt in der Kneipe stehen und sorglos über die volle Bahn fluchen. Die Anpassungen, die uns die Pandemie aktuell abverlangt, sind anstrengend. Aber haben einige davon womöglich auch ihr Gutes? Wachsen wir – als Gesellschaft, als Einzelne – gerade nicht auch über uns hinaus und entdecken ungeahnte Kräfte? Kann die derzeitige Ausnahmesituation letztlich ein wertvoller Impuls sein, um Neues zu schaffen?
Nassim Nicholas Taleb würde das sicherlich bejahen. In seinem Buch Antifragilität beklagt der ehemalige Optionshändler und Professor für Risikoanalyse an der New York University, dass moderne Gesellschaften dem Unvorhersehbaren absolut falsch entgegenträten. Anstatt ständig zu versuchen, Risiken zu reduzieren, sollten wir lernen, uns Chaos zunutze zu machen. Antifragile Dinge, schreibt Taleb, „profitieren von Erschütterungen; wenn sie instabilen, vom Zufall geprägten, ungeordneten Bedingungen ausgesetzt sind, wachsen und gedeihen sie; sie lieben das Abenteuer, das Risiko und die Ungewissheit.“ Taleb, gebürtiger Libanese und US-Amerikaner, hält Antifragilität für unverzichtbar, um auf unvorhersehbare, dramatische Ereignisse wie beispielsweise die Finanzkrise 2008 reagieren zu können. Solche „schwarzen Schwäne“, warnt er, drohten in unserer modernen, zunehmend komplexen und vernetzten Welt immer häufiger. Mit dieser Formulierung bezieht Taleb sich auf den österreichischen Philosophen Karl Popper, der die Figur des schwarzen Schwans anführt, um die Kraft des Unwahrscheinlichen darzulegen.
Schwarze Schwäne kommen in der Natur äußerst selten vor und gerade deswegen stellt ihr Auftreten, ebenso wie das Eintreten seltener Ereignisse, unsere vermeintlich bekannte Welt auf den Kopf. Antifragil auf solche seltenen Krisen zu reagieren, heißt übrigens nicht nur, widerstandsfähig zu sein, sondern von ihnen zu profitieren. Für Taleb sind diese Eigenschaften so unterschiedlich wie die Figuren des Phoenix und der Hydra: Während Phoenix als aus der eigenen Asche auferstandener Vogel für das Robuste steht, ist die Hydra wahrhaftig antifragil. Wurde dieser Kreatur aus der griechischen Mythologie ein Kopf abgeschlagen, wuchsen gleich zwei nach. Hat die Finanzkrise nicht gezeigt, wie Erschütterungen neue, kreative Lösungen hervorbringen können? Damals entstanden die ersten großen Sharing-Plattformen wie Airbnb und Uber. Menschen, die ihre Jobs verloren hatten, suchten nach neuen Einkommensquellen und wurden damit Teil einer neuen, rasant wachsenden Branche.
Improvisation braucht Vorbereitung
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