Lässt sich Sexarbeit wertfrei betrachten?
Die Mediathek von Arte ist um einen eindrücklichen Dokumentarfilm reicher geworden. Bonnie und die tausend Männer zeigt das Leben einer dänischen Sexarbeiterin. Der Film lehrt uns, die komplexen Beweggründe der menschlichen Existenz zu achten.
Bonnie und die tausend Männer ist eine dänische Dokumentation über eine 40-jährige Sexarbeiterin. Seit sie 18 Jahre alt ist verdient Bonnie Cleo Andersen unter dem Pseudonym „Patricia“ Geld mit dem Verkauf sexueller Dienstleistungen. 2012 wird sie von der Fotografin Marie Hald fotografiert, während sie unter einem Mann liegend mit ausdruckslosem Gesicht an die Decke starrt. Das einprägsame Foto Dead Eyes wird 2013 das Pressefoto des Jahres. Daraufhin wird die Journalistin Mette Korsgaard auf Bonnie aufmerksam, begleitet sie zwei Jahre bei der Arbeit und im Privatleben und veröffentlicht 2015, international gefeiert, das Videomaterial in Form eines Dokumentarfilms, der nun in der Arte-Mediathek abrufbar ist.
Bonnie arbeitet in einer verlassenen, ländlichen Gegend in einem kleinen dänischen Haus, dessen Gestalt noch letzte Assoziationen mit dem klassischen, dänischen Ferienhaus zulassen. Am Tag bekommt sie Besuch von mehreren Kunden; unablässig trudeln neue Nachrichten auf ihr Handy von Freiern ein, die ihr baldiges Vorbeikommen ankündigen. Das zentrale Szenenbild ist die Küche ihres für die Arbeit gemieteten Hauses, in der Bonnie sich zwischen den Kunden Ruhe gönnt und meist bei einer Zigarette still, leicht lethargisch ins Leere schaut. Das Geräusch der Klingel, die den nächsten wartenden Freier ankündigt, erwächst in der Doku zunehmend auch zur Belastung des Zuschauers. Denn die Last, die der Beruf mit sich trägt, wird auch für den Betrachter spürbar.
Der Drang zur Erklärung
In der Debatte um Sexarbeit sind die Meinungen gespalten. Der gerechtfertigten Annahme eigenständiger Sexarbeiter, dass man ihren Beruf doch wie jeden anderen behandeln solle, stehen häufig ebenso gerechtfertigte Zweifel ob der tatsächlichen Freiwilligkeit von sexuellen Dienstleistungen gegenüber. Aussagen der einen Seite werden schnell als Reproduktion von Vorurteilen durch die andere Seite wahrgenommen. Der Dokumentarfilm ist dieser Debatte enthoben; er urteilt nicht über mögliche Gründe der Arbeit, sondern stellt lediglich das facettenreiche Leben einer Sexarbeiterin dar.
Diese Darstellung zeigt das große Leid der Hauptdarstellerin, das im direkten Zusammenhang mit ihrer Arbeit steht; aber nicht nur. Denn Arbeit und Privatleben, in dem oberflächliche Harmonie die Katastrophen der Vergangenheit nur lückenhaft überdecken kann, lassen sich auch bei Bonnie nicht getrennt voneinander betrachten. Dabei verbleiben die prägenden Ereignisse in ihrem bisherigen Leben nur andeutungshaft. So zum Beispiel ein möglicher sexueller Missbrauch durch einen nahen Verwandten, der der Grund für den Drogentod der älteren Schwestern sein könnte. Auch die lebensbedrohliche Magersucht und Bulimie, unter der Bonnie sichtbar leidet, wird nur in abstrakter Weise als Krankheit, die mit zu viel Arbeit einhergehe, bezeichnet. So bietet der Film lediglich einzelne Puzzlestücke an, die der Zuschauer sofort zu einem Ganzen zusammensetzen möchte. Der Drang, Erklärungen dafür zu finden, warum sich Bonnie jeden Tag das antut, was sie sichtbar zerstört, verbleibt aber notgedrungen ungestillt. Und das ist gut so.
Denn: Die Stärke des Dokumentarfilms liegt in seiner Darstellungsweise. Der Film zeigt, er klärt nicht auf. Er fragt nicht, er stellt dar. Das macht ihn so eindrücklich; stellenweise beinahe unerträglich. Denn Stille kann eine ohrenbetäubende Antwort auf eine Frage sein, die gar nicht ausgesprochen wurde. Fast möchte man Mette Korsgaard vorwerfen, dass sie doch viele drängende Fragen hätte formulieren müssen, die dem Zuschauer stetig im Kopf herumschwirren. Warum drängt beispielsweise keiner ihrer Angehörigen Bonnie dazu, mit ihrer Sexarbeit aufzuhören und ihrem eigentlichen, in seiner Bescheidenheit so berührenden Traum einer eigenen Würstchenbude nachzugehen? Warum überredet sie keiner zu einer dauerhaften psychologisch betreuten Traumaaufarbeitung?
Empathie oder Bevormundung?
Aber genau an diesem Punkt tritt die wahre Wirkkraft des Dokumentarfilms ein; das reflexive Moment. Denn der Zuschauer erkennt: Es gibt auf diese Fragen keine einfachen Antworten. Und was sich im Extremen bei Bonnie zeigt, kennen die meisten Zuschauer aus ihrem eigenen Leben in abgeschwächter Form. Die Puzzlestücke einer einzelnen Existenz können für einen außenstehenden Betrachter nie zufriedenstellend zu einem abgeschlossenen Gesamtbild zusammengestellt werden; noch nicht einmal durch das Individuum selbst. Durch Entscheidungen und Verhaltensweisen „scheinen“ wir vielmehr eine vollständige Persönlichkeit darzustellen, die nur vermeintlich ein abgerundetes Bild des Selbst ergibt.
Von Hannah Arendt stammt dazu folgendes Zitat: „dass ich wirklich Einer bin, dazu brauche ich alle Anderen. (…) Hierin erkennen wir auch, dass wir den anderen besser bekannt sind als wir uns selbst. Ihnen erscheinen wir unmittelbar. Wir uns selbst jedoch nur über ihre Reaktionen.“ Bonnie Cleo Andersen scheint eine gute Mutter und eine humorvolle Person zu sein; sie scheint aber auch ein anderes Bild von sich selbst zu haben als dieses. Denn nicht wir als Zuschauer sind die anderen, auf die sie trifft, die ihr am liebsten Mut für einen anderen Lebensweg zusprechen möchten, sondern ihre Kunden sind die anderen, die ihr zwar auch Leid zufügen, aber in Form anerkennender Reaktionen zu Selbstwertgefühl verhelfen. Das führt zu Problemen des Umgangs mit Bonnies Lebensweg, der doch ziemlich selbstständig daherkommt. Wo kann Hilfe von außen tatsächlich gewünscht sein? Wo mutiert eine helfende Hand zur bevormundenden Errettungsgeste? Auch diese Fragen verbleiben unbeantwortet und sind schließlich nicht nur auf das Genre der Sexarbeit beschränkt.
Karsgaards fehlendes Fragen und ihr einfaches Darstellen und Andeuten bringen den Zuschauer dazu, von der Suche nach vermeintlich zufriedenstellenden, aber unzureichenden Antworten abzusehen. Das Vorgehen wirft aber selbst wiederum Fragen auf, die zur weiteren Auseinandersetzung einladen. So kann der Dokumentarfilm als eindrückliches und prägendes Meisterwerk seines Genres gelten. •