Ein neues Deutschland
Alle 70 bis 80 Jahre legt sich Deutschland eine neue Identität zu. Heute ist es wieder so weit: Sein Status als Wirtschaftsmacht ist gefährdet. Entdeckt Berlin nun die Politik für sich?
Deutschland wirkt instabil. Die Wirtschaft strauchelt, der industrielle Kern ist derart angeschlagen, dass unklar ist, wie man ihn wieder hinkriegen soll. Die Ampel-Regierung konnte es jedenfalls nicht. Nach nur drei Jahren ist die „Fortschrittskoalition“ zerbrochen. Die nächste Regierung muss die geschichtsphilosophischen Ansprüche vermutlich etwas herunterschrauben, es geht jetzt nur noch um Substanzerhalt. Denn vieles, wofür man sich einst rühmte, funktioniert nicht mehr: Ämter, Züge, Infrastruktur sind nicht gerade Prunkstücke Deutscher Effizienz. Dieser letzte Mythos, den sich die ausgenüchterte Bundesrepublik noch leistete, zerbröckelt gerade, wie Umfragen zeigen: Immer weniger Menschen glauben, dass das Land intakt ist. Viele wenden sich Parteien zu, die eine andere Republik wollen. Die Auflösung der alten Weltordnung spielt ihnen in die Karten, denn das Modell Deutschland beruhte auf drei Säulen: Amerikas Sicherheitsgarantie, Russlands Gas und Chinas Markt. Alle drei brechen gerade weg.
Kulturmacht (18. Jahrhundert)
Soweit die schlechte Nachricht. Eine gute gibt es nicht wirklich, aber eine interessante: Diese Umbrüche sind in Deutschland normal. Sie ereignen sich alle 70 bis 80 Jahre und verwandeln das Land von Grund auf. Sie reichen mindestens bis ins 18. Jahrhundert zurück, als Deutschland ein fragiles Gebilde aus lauter Städten, Fürstentümern und Königreichen war, mühsam zusammengehalten von der Klammer des Kaisers und der Reichsstände. „Deutschland“, stellt der junge Hegel fest, „ist kein Staat“ mehr. Dennoch war hier einiges los: Musik (Bach), Literatur (Weimar) und Philosophie (Kant) standen in höchster Blüte. Weil politisch nichts zu holen war, konzentrierte man sich auf die Kunst. „Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben in des Ideales Reich!“, empfahl Schiller. Die Pariser Schriftstellerin Germaine de Staël portraitierte das damals in Frankreich unbekannte Land als „still“, „verschlossen“ und „obrigkeitshörig“. Die meisten Deutschen, registrierte sie verwundert, führen ein „Stubenhockerleben“, verstehen sich aber aufs Musizieren und Singen. Überdies werde die „Wissenschaft [...] hier besser gepflegt als anderswo“. Viele Klischees über Deutschland stammen aus dieser Zeit: geistreich, provinziell und unpolitisch.
Ideologische Macht (1800-1870)
Als Madame de Staël dies schrieb, befand sich Deutschland bereits mitten in einer Verwandlung. Napoleon hatte dem klapprigen Reich den Todesstoß versetzt, das Land war in heller Aufregung. Man dachte pausenlos darüber nach, wie man mit dem Druck der Französischen Revolution umgehen sollte, den Deutschland als erstes zu spüren bekam. Aus Musikanten wurden Welterklärer. Die Romantiker wollten die seelenlose Welt der Aufklärung zum Klingen bringen. Und der Deutsche Idealismus bemühte sich um Übertrumpfung der Revolution, was er auch, wie Heine anerkennend schrieb, durchaus schaffte. Bis heute arbeitet man sich an seinen Entwürfen ab. Hegel sah Revolution und Restauration im Preußischen Staat versöhnt. Schelling vertrat das Anliegen der Natur. Und Fichte arbeitete an einer Synthese aus Ich und Nation. Überhaupt der Nationalismus: Er schüttelte das verschlafene Land kräftig durch. Es hatte nun ein Ziel: Seine Einheit herstellen, was allerdings nicht gelang, da zahlreiche Mächte etwas dagegen hatten. Karl Marx wollte sogar über die Französische Revolution hinausgehen und auch den vierten Stand, das Proletariat, befreien. Es war eine unruhige, brodelnde, latent-revolutionäre Zeit. Und Deutschland war noch immer keine große, aber durchaus eine ideologische Macht, dessen Philosophen nun allmählich bekannt wurden.
Militärmacht (1870-1945)
Bismarck beendete das. Er schuf einen einheitlichen Machtstaat, ein zweites Reich. Es war aus dem Krieg geboren und zum Kriegführen geschaffen, eine Maschine und ein „kaltes Ungeheuer“, wie Nietzsche beklagte. Es standen nun andere Dinge im Vordergrund: Industrialisierung, Weltgeltung und große Politik, die eine „Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches“ bewirkten. Unter Kaiser Wilhelm II. trugen die Kinder Matrosenanzüge, um die Kriegstüchtigkeit künftiger Generationen zu demonstrieren. Aber das Reich verlor den Ersten Weltkrieg, der Kaiser musste abdanken und Deutschland wurde eine Demokratie. Doch auch die kam nicht zur Ruhe. Die Republik arbeitete an der Revision der Versailler Ordnung und wollte Deutschlands Macht wiederherstellen. Im Innern drohte ein permanenter Bürgerkrieg das Land zu zerreißen. Es gab Aufstände und Putschversuche, alles drehte sich um Militärs und Paramilitärs, die sich Straßenschlachten lieferten. Schließlich kam Hitler, schlug alles kurz und klein und trieb den deutschen Militarismus auf die Spitze – bis diese abbrach und auch das Dritte Reich in sich zusammenstürzte.
Wirtschaftsmacht (1945-2022)
Danach kam es erneut zu einer radikalen Kehrtwende. Deutschland war besiegt – und befreit. Es konnte, es musste sich eine neue Identität zulegen. Alles andere hätten die Besatzungsmächte nicht zugelassen. Die Bundesrepublik stürzte sich fieberhaft in den Wiederaufbau. Trümmer wurden beseitigt, Unternehmen wiederhergerichtet, neue gegründet, Wachstum hieß der neue Gott. Obwohl der Kalte Krieg vor der Haustür stand, dachte das neue Deutschland nicht mehr an Aufrüstung und Weltpolitik. Es dachte ans Geschäftemachen. Dabei half ihm die Integration in den westlichen Kosmos. Amerika bot der Bundesrepublik einen komfortablen Platz unter seinem Atomschirm, die europäische Einigung sorgte für Aussöhnung und enge Handelsbeziehungen mit den Nachbarn. Die beginnende Globalisierung verschaffte der deutschen Industrie Absatzmärkte und billige Produktionsstandorte. Und als 1989 die Mauer fiel, konnten auch die letzten Gedanken an den Krieg beiseitegeschoben werden. Das wiedervereinigte Deutschland stürzte sich in die Märkte Europas und der Welt. Russland lieferte billige Energie und China kaufte deutsche Autos und Maschinen. Und wenn die westlichen Bündnisverpflichtungen eine Kriegsbeteiligung verlangten, dann zahlte Berlin lieber als Soldaten zu schicken. Selbst die Eurokrise löste es nicht durch Umbau der EU-Architektur, sondern indem es Geld auf das Problem schmiss. Deutschland war eine rundum geoökonomische Macht: Reich, politisch zurückhaltend und zahlungsbereit.
Fragile Identität
Nun scheint dieses Modell an ein Ende zu kommen: Mit einem Präsidenten Trump ist der Schutz der USA fraglich. Das macht Europa zur leichten Beute Russlands, das bereits seine Finger nach der Ukraine ausstreckt. Wer weiß, was es sich als nächstes holt. Deutschland und die EU reagierten, wie geoökonomische Mächte das eben tun, mit Sanktionen. Aber die schneiden ihm ins eigene Fleisch. Die Energiepreise explodieren, die Inflation ist hoch. Und zu allem Überfluss steuern die USA und China auf einen Großkonflikt zu, der Deutschland von seinem wichtigsten Markt China abschneidet – oder von seinem zweitwichtigsten, den USA. Hinzukommen strukturelle Probleme, die es zweifelhaft erscheinen lassen, dass Deutschland seine Position als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt halten kann: Großunternehmen wie VW und zahllose Mittelständler straucheln. Neue Technologien werden längst anderswo entwickelt. Die Infrastruktur ist marode, die Energiewende will nicht gelingen. Die Bevölkerung altert, es fehlen Fachkräfte und zu allem Überfluss ist der Staat derart verschuldet, dass eine Neuausrichtung der Wirtschaft durch Investitionen schwierig wird. Es droht ein Wohlstandsverlust, der auch zu einem Identitätsverlust führen könnte. Denn die Bundesrepublik war ein wohlgenährtes, harmloses Tier. Nicht umsonst thront im Plenarsaal des Bundestages, auf der DM-und €-Münze die „fette Henne“, die den gefährlichen Reichsadler abgelöst hatte.
Politische Macht?
Nun braucht es ein neues Tier, eine neue Erzählung, eine neue Identität, die Deutschland sich zulegt. Vielleicht einen Fuchs? Jenes raffinierte Tier, das Machiavelli dem starken Löwen beiseitestellte. Der Fuchs ist das eigentlich politische Tier, das durch Geschick seine Ziele erreicht. Übersetzt in die Sprach der Macht hieße das: Deutschland könnte, nachdem es eine kulturelle, ideologische, militärische und wirtschaftliche Macht war, nun eine politische Macht werden. So wie Venedig noch Jahrhunderte nach seinem Abstieg diplomatisch vermittelte, etwa im Dreißigjährigen Krieg, oder so wie England nach dem Zerfall seines Empires einen Platz im Weltsicherheitsrat für sich beanspruchen konnte. Auch Deutschland wird nun vielleicht sein schwindendes wirtschaftliches in politisches Kapital umschichten, weil dort größere Zuwächse zu erwarten sind. Hierfür muss man geschmeidig sein, gelassen, aber auch visionär. Große, mitreißende Erzählungen sind das Elixier einer politischen Macht. Natürlich reicht das noch nicht aus. Politische Macht ist die Fähigkeit, andere Machtsorten zu mobilisieren. Man muss ein Generalist sein, militärisch, wirtschaftlich und kulturell gut aufgestellt – ohne in einem Feld zu überragen. Vor diesem Hintergrund dürfen wir die „Zeitenwende“ nicht als Rückkehr zum Wilhelminismus verstehen, denn es geht nicht nur um Flotte und Armee. Es geht um die Schaffung einer Grundlage für politische Macht. Auch wird die Wirtschaft irgendwann wieder auf die Beine kommen. Aber ob sie noch einmal so schnell läuft wie bisher, ist fraglich. Vermutlich verliert sie ihre identitätsstiftende Funktion („Wir sind Exportweltmeister“), denn auf diesem Gebiet ziehen andere davon.
Ost-West-Management
Möglicherweise wird sich Berlin künftig auf die Initiierung politischer Projekte konzentrieren. Die Voraussetzungen sind nicht schlecht. Sein Einfluss in internationalen Institutionen ist groß. In Brüssel macht sich die deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen daran, ihr Amt zu stärken – ein Schritt in Richtung europäischer Souveränität? Unter dem Druck des Großmachtkonflikts zwischen Russland, China und den USA könnten weitere folgen. Auch in den UN-Gremien, in den Handels- und Sicherheitsinstitutionen ist Berlin gut positioniert. Bilden diese nicht den Nukleus einer postnationalen, globalen Politik? In den 1990er und 2000er Jahren waren Deutsche schon einmal Feuer und Flamme für diese Idee. Jürgen Habermas, Joschka Fischer und viele andere träumten von der einen Welt. Aber sie taten dies unter den Voraussetzungen westlicher Hegemonie. Die gibt es nun nicht mehr. Die Welteinheit wird auch andere Akteure berücksichtigen müssen, illiberale, autokratische und technokratische, staatskapitalistische und nichtwestliche. Vermutlich wird es ein zäher Prozess, der gut moderiert werden muss. Warum nicht von Deutschland, das zwischen den Fronten vermitteln könnte? Sein ewiges Schwanken zwischen Ost und West, das seine tragische Zerrissenheit in der Mittellage begründet hatte, könnte heute ein Vorteil sein. Denn wer vermitteln will, muss mittendrin und außen vor sein, er darf sich nicht auf eine Seite schlagen, auch nicht auf die des Westens.
Nicht-Souveränität
Der Westen war Deutschlands Platz zwischen 1945 und ungefähr 2020. Dieses Deutschland ist vorbei, es kommt ein neues, und wir wissen noch nicht genau, wie es aussieht. Möglich ist nämlich auch, dass der Welteinigungsprozess misslingt. Dass die Staaten sich nicht zusammenschließen, sondern zerfallen. Doch auch hier hat Deutschland ein Rezept parat, das es aus dem Regal seiner Geschichte kramen kann: Das alte, klapprige Reich, das kein richtiger Staat war – eher ein loses Band, das sich um lauter eigensinnige Zwergstaaten legte. Heute müsste das Band anders beschaffen sein: Nicht kaiserliche Legitimität, sondern technologische Konnektivität und ökologisches Kooperationsgebot stiften den Zusammenhang. Die Deutschen könnten der Welt von ihren Erfahrungen mit dieser komischen Nicht-Souveränität berichten. Immerhin haben sie diese mehrere Jahrhunderte ausgehalten.
Oder denkt sich Deutschland, dieser Verwandlungskünstler, etwas ganz Neues aus? Möglich ist es. Bereits Madame de Staël bemerkte über die Eigenart der deutschen Sprache, das Verb weit hinten im Satz zu positionieren: „Der Sinn der deutschen Perioden [wird] oft erst am Ende klar.“ Das gilt auch für den Charakter des Landes, der nach Ablauf eines Menschenalters stirbt und in neuer Gestalt wiedergeboren wird. Wir können dann kaum glauben, dass es noch dasselbe Land ist, aber auch nicht sagen, was an dessen Stelle getreten ist. Erst nach vielen Jahren erkennen wir das Ergebnis der Verwandlung. Und dann steht auch schon die nächste an. •
Kommentare
Ich finde es wichtig, dass Deutschland erstmal den inneren Frieden wieder zu gewinnen versuchen sollte, sich mit seiner Geschichte und seinen Ahnen wieder versöhnen bzw. in Akzeptanz gehen sollte, dass es so war wie es war.... Und dafür ist ein Wust an verschiedenen Narrativen zu durchdringen, um dann ähnlich wie beim hawaiianischen Ho'o'pono pono Ritual - "in Ordnung bringen" - auf der Basis von Annehmen, Vergeben und Versöhnen wieder eine neue Rolle, Identität, Geschichte der eigenen Rolle in der Welt zu entwickeln. Das erfordert Zuhören zwischen Ost und West, Männern und Frauen, Alten und Jungen und innerhalb.... Aber es enthält eine Chance, zum Phönix aus der Asche....