Gayatri C. Spivak: „Kant braucht unsere Hilfe“
Aufgrund rassistischer Äußerungen, eines vermeintlich veralteten Vernunftkonzepts und eines ausgrenzenden Universalismus steht Kant zunehmend in der Kritik postkolonialer Theorien. Im Gespräch geht Gayatri C. Spivak auf die Vorwürfe ein und erklärt, warum Kant nach wie vor eine unverzichtbare Lektüre darstellt.
Lesen Sie hier eine ausführlichere Version des Interviews, das in gekürzter Form in unserer gedruckten Ausgabe erschienen ist.
Frau Spivak, glauben Sie, dass Kant ein Rassist war?
Unterschwelliger Rassismus ist das, was die Welt am Laufen hält. Deshalb bin ich nicht daran interessiert, mich mit Fragen wie „War Kant oder Marx ein Rassist?“ zu beschäftigen, und habe das auch nie getan. Ich denke, jeder war und ist mehr oder weniger ein Rassist. Aber es gab nur einen Kant und einen Marx. Warum sollte man sich also die Mühe machen, über ihren Rassismus zu diskutieren? Diese großen Denker einfach als Rassisten abzustempeln und nichts von ihnen zu lernen, ist nutzlos. Ich bin ein großer Bewunderer von Kant und folge ihm.
Aber in Ihrem Buch Kritik der postkolonialen Vernunft kritisieren Sie Kant dennoch.
Ich habe zwei Dinge gesehen: Erstens erkannte ich, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft, um die Antinomie im Abschnitt über die teleologische Vernunft zu lösen, gezwungen war zu sagen, diese sei nicht zu lösen, solange die „Wilden“ auch als Menschen betrachtet werden. Es war ihm nicht möglich zu beweisen, dass die Welt für den Menschen geschaffen wurde, wenn er sie in Betracht zog. Meine zweite Erkenntnis bezog sich auf das Konzept des Erhabenen: In der Begegnung mit dem Erhabenen wird man daran erinnert, dass man ein moralisches Wesen ist. Die durch die Konfrontation mit der Natur entstehende Angst verschwindet, wenn auch nur durch Erschleichung. Zu diesem besonderen Phänomen, so Kant, habe der rohe Mensch keinen Zugang. Ich erkannte also, dass Kant, um seine Theorie zu entwickeln, aus der Gesamtheit der Menschen eine Gruppe ausgrenzen musste, die in diesen beiden sehr wichtigen Bereichen nicht ganz menschlich war.
Warum glaubt Kant, dass Nichteuropäer keinen Zugang zum Erhabenen hätten?
Weil sie für ihn noch keine voll ausgebildeten Menschen sind. Sie sind wild und roh.
Wie ist es zu verstehen, dass Kant die „Wilden“ von der Menschheit ausschließen musste, um die teleologische Antinomie zu lösen? Was können wir unter der teleologischen Antinomie verstehen?
Das Wort Teleologie kommt aus dem Altgriechischen von télos (Ziel) und lógos (Lehre oder Grund). Kant fragt in der Kritik der Urteilskraft, ob das Telos der Welt für den Menschen gemacht sei. Zu sagen, dass das Ziel der Welt auf den Menschen ausgerichtet sei, entspricht einem teleologischen Urteil. Die Antinomie besteht für Kant nun in einem Problem: Wenn man die gesamte Menschheit betrachtet, gibt es aus seiner Perspektive Menschen, die es schwierig machen, die Idee des Welttelos zu bejahen, weil diese nicht die moralischen Qualitäten eines voll entwickelten Menschen aufweisen. Das ist der Grund, warum Kant sie nicht als Menschen betrachtet. Die Vorstellung, dass der primitive Mensch kindlich sei, war früher durchaus üblich. Um zu zeigen, dass die Welt für den Menschen gemacht ist, geht Kant lediglich zu einer reflexiven Denkweise über. Damit lässt sich jedoch die große Rede von „dem Menschen“ nicht vereinbaren, denn sie setzt voraus, dass die wahren Menschen die Europäer sind. Aber solche Gedanken finden sich nicht nur bei Kant oder bei Kolonialisten. In Indien hatten wir die gleichen: Das Wort Arier ist ein Sanskrit-Wort und kommt von den Indern. Es bedeutet „der Beste“. Die Hindus innerhalb des Kastensystems pflegten die gleiche Art von Rassismus wie Kant. Um Kants Fehler zu verstehen, reicht es also nicht aus, lediglich mit dem Finger auf den Kolonialismus zu zeigen und zu sagen, wir sind gut und die anderen böse. Diese Art von Schuldzuweisung des Postkolonialismus mag ich nicht. Mein Buch ist eine Kritik der postkolonialen Vernunft.
Was ist falsch an dieser Art postkolonialer Kritik?
Man vergisst nicht nur die eigene Kollaboration, sondern auch, dass es bereits vor dem Kolonialismus eine Menge Korruption und Machtspiele gab. Das waren keine wunderbaren und reinen Menschen – nirgendwo auf der Welt gab es die. Der Kolonialismus hängt vom Kapitalismus ab und er braucht eine bestimmte Art von Klassendifferenz. So muss man ihn betrachten, anstatt einfach zu sagen, die Weißen waren rassistisch und haben uns gegenüber rassistisch gehandelt. Das ist nicht das, was den Kolonialismus ausmacht. Wenn wir den Kolonialismus nur rassifizieren, vergessen wir unsere eigenen Rassismen. Unbestritten bleibt aber natürlich, dass sich die weiße Vorherrschaft als eine Folge der kolonialen Macht erweist.
Kant ist bekannt für seinen universalistischen Ansatz. Beeinflusst die Tatsache, dass Kant die Menschen in unterschiedliche Gruppen kategorisierte – indem er etwa sagte, dass Menschen aus Afrika nur zur Arbeit fähig seien –, seine Theorie eines Universalismus?
Natürlich! Kant ist dadurch ruiniert, dass er auf der einen Seite sagt, es gäbe einen Universalismus, und auf der anderen, dass Afrikaner Tiere seien und schwarze Subjekte sich nicht zu einer vernünftigen Subjektivität entwickeln könnten. Kant schrieb in mehreren seiner Werke über „Rasse“: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie und Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Unsere Aufgabe muss es heute sein, diese Schriften aufzugreifen und umzudrehen, damit wir seinen Universalismus wieder nutzen können. Wir müssen Kant in Bezug auf die Schwarzen korrigieren. Kant ist so viel klüger als wir und doch wurde er durch den Kapitalismus und den Kolonialismus verdorben. Er braucht unsere Hilfe!
Wie können wir ihm helfen?
Meine Idee von Forschung ist eine aktivistische. Um Kant zu helfen, müssen wir uns auf seine Arbeit einlassen und verstehen, wie gut sie ist. Meine Methode ist die sogenannte „affirmative Sabotage“. Dabei bediene ich mich Kants eigener Theorie, um ihn damit zu korrigieren. Statt alle Stellen zu suchen, an denen Kant sagt, dass Afrikaner oder Inder schlecht sind, interessiere ich mich mehr dafür, gute Gedanken von ihm zu verwenden. Das ist wesentlich produktiver als nur zu sagen, das oder jenes ist schlecht. Meine aktivistische Arbeit der letzten 40 Jahre ist der Versuch, den subalternen Intellektuellen hervorzubringen. Dabei sind einige meiner Annahmen über das subalterne Subjekt – zum Beispiel in Bezug auf die Urteilskraft oder die Wirkung der Gnade – die gleichen, die Kant in Was ist Aufklärung? nur auf die Gelehrten bezogen hat. Ihre Leser werden ein wenig Kant studieren müssen, um mich hier zu überprüfen. Die Vorstellung von einem Kant-made-easy, wie es ja auch unter anderem dieses Heft versucht, ist nicht die meine.
Wie können wir heute einen Universalismus denken, ohne die Fehler Kants zu wiederholen? Gibt es einen Universalismus?
Einerseits denke ich, dass die Annahme eines Universalismus immer eine Art statistischen Durchschnittsmenschen voraussetzt, den es nicht gibt. Wenn man an eine allgemeine Ontologie denkt, denkt man an einen statistischen Durchschnitt. Die Menschen, die sich auf einen Universalismus beziehen, reflektieren diesen Umstand nicht, weil er für ein ontologisches Denken zu materialistisch ist und die Idee des Universalismus untergräbt. Andererseits brauchen wir aber die Idee eines Universalismus und eines Menschen, der keine Eigenschaften hat, um Konzepte wie Demokratie oder Ethik überhaupt denken zu können. Letztlich müssen wir also verstehen, dass der Universalismus nicht real ist, und wir ihn trotzdem voraussetzen müssen, um uns ethisch zu verhalten. Es handelt sich um notwendige methodologisch-politische Annahmen. Sie sind keine korrekten und wahren Beschreibungen. Die Aufgabe der Philosophie ist es, diesen Unterschied zu lehren. Kurz gesagt: Der Universalismus ist eine Notwendigkeit, aber er ist nicht richtig. Diese Spannung zwischen dem, was wir als Wahrheit produzieren, und dem, was wir für richtig halten, ist die unglaubliche Herausforderung im Herzen des Philosophierens und das Zentrum des menschlichen ethischen Verhaltens. Und Kant weiß das.
Inwiefern?
Es zeigt sich, wenn er darüber redet, dass das Philosophieren in Analogie zum Körper verstanden werden muss. So wie unsere Erfahrung des Körpers als Ganzes etwas ist, das unser Geist aus vielen Erfahrungsfragmenten zusammenstellt, so erlaubt uns auch die Philosophie, aus Fragmenten einheitliche Argumente zu produzieren. Zur reinen Vernunft als solcher haben wir keinen Zugang. Deshalb unterteilt Kant das menschliche Subjekt in das praktische und das reine. In der Kritik der Urteilskraft stellt er sich dem Problem und fragt, wie wir etwas beurteilen können, was wir nicht wissen können. Für Kant ist die Urteilskraft Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Auf den ersten Blick erscheint das seltsam. Wie kann eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck sein? Aber tatsächlich sind wir gerettet, weil sie ohne Zweck ist. Denn wenn man sein Urteil tatsächlich auf ein bestimmtes Ziel ausrichtet, kann man eigentlich gar nicht mehr urteilen, weil man bereits ein Urteil hat. Hier zeigt sich Kants ganz Schläue: Statt in die Sphäre der praktischen oder der reinen Vernunft legt er die Macht des Urteils in einen Bereich, in dem es keinen Grund gibt: die Ästhetik. Das Urteil erscheint also in sich zwiespältig. Kants Denken ist wirklich kühn und sein Umgang mit diesem Problem so ungewöhnlich für seine Zeit. Er deinstrumentalisiert auf diese Weise seine ganze Philosophie und erklärt, dass man bestimmte Dinge nicht philosophisch, sondern nur ästhetisch tun kann.
In Ihrem Frühwerk haben Sie den Begriff des „strategischen Essentialismus“ geprägt. Er beschreibt die politische Taktik einer Minderheitengruppe, bei der sie sich, um in der Öffentlichkeit zu agieren und im politischen Konflikt eine Einheit zu bilden, eine gemeinsame Identität zuspricht. Ist die Verwendung der Idee des Universalismus auch strategisch und damit methodisch mit dem strategischen Essentialismus vergleichbar?
Nein. Ich verwende den Begriff des strategischen Essentialismus auch nicht mehr und habe ihn bereits 1993 in meinem Aufsatz Outside in the Teaching Machine zurückgenommen. Ursprünglich etabliert habe ich diesen Begriff, weil ich von einer Gruppe namens "The Subaltern Studies Collective" in Indien gebeten wurde, ihre Arbeit zu theoretisieren. Als ich anfing, mir ihre Arbeit anzuschauen, sah ich, dass sie eine vortheoretische Vorstellung von subalternem Bewusstsein hatten. Vor allem ihr Anführer romantisierte das subalterne Bewusstsein, als ob es nicht historisch wäre. Es war die Elite, die hier zu Wort kam, denn nur in einem europäischen Kontext kann man sich etwas vorstellen, was man „Minderheitengruppe“ nennt. Das war 1984-85. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich diese Gruppe südasiatischer Historiker nicht vor den Kopf stoßen, zumal ich in den Vereinigten Staaten lebte und es sich bei ihnen um Südasiaten handelte. Hinzu kam, dass sie alle Männer waren. Aufgrund dieser Umstände sagte ich, um sie zu retten, sie würden das Subalterne strategisch essentialisieren. Das war aber nicht richtig. Tatsächlich taten sie es absolut blauäugig. Von Anfang an habe ich es im falschen Bewusstsein gesagt. Deshalb habe ich es auch später zurückgenommen. Trotzdem wird es immer noch zitiert.
Hat Kant mit seiner Teleologie ein „Othering“ betrieben?
Ich mag den Begriff nicht.
Warum?
Weil wir ihn nicht brauchen. Wenn man sagen will, dass jemand etwas anderes ist, dann ist objektivieren ein viel besseres Konzept. Dass jemand objektiviert wird, bedeutet, dass ich der anderen Person den Subjektstatus abspreche und sie zu einem Objekt degradiere. Das ist für mich ein viel stärkeres Wort als „Othering“.
Ich verstehe „Othering“ in dem Sinne, dass die andere Person als ein Anderes deklariert wird, um mich selbst zu konstituieren: Das Andere erscheint als ein konstitutives Außen. Wenn sie sagen, dass es für Kant notwendig war, ein Außen zu haben, um die Idee des Menschen zu konstituieren, würde das nicht genau diesem Verständnis von „Othering“ entsprechen?
Sie haben Recht, aber das Außen ist nicht das Andere. Das Andere ist eine Art Modewort mit dem wir das Außen verallgemeinern. Doch wir sollten genauer sein, weil jeder Fall unterschiedlich sein kann. Einfach zu sagen, Kant hat ein „Othering“ betrieben, ist für mich eine Beleidigung Kants. Er denkt, dass der Nichteuropäer nicht wirklich menschlich ist. „Othering“ ist dafür zu schwach.
Wie sollten wir Kants Methode stattdessen nennen?
Wie ich bereits sagte: Kant braucht Menschen, die nicht ganz menschlich sind, um die Menschlichkeit seiner eigenen Gruppe zu bewahren. Das ist es, was er tut. Kants Methode ist die Kritik: Dogmatische Leser Kants glauben, diese führe zu einer existierenden Wahrheit, kritische Leser dagegen beziehen subjektive und soziale Strukturen in ihre Überlegungen mit ein.
Wie kann für Kant ein Mensch gleichzeitig menschlich und nicht ganz menschlich sein?
Wenn man die Kritik der Urteilskraft liest, sieht man, dass Kant, um zu beweisen, dass die Welt für den Menschen gemacht ist, von einem heteronomen zu einem reflexiven Urteil übergeht. Dafür ist es notwendig, den Menschen zu definieren. Der Ureinwohner passt dabei nicht in die Definition und fällt heraus. Historisch wurde auf diese Weise die Sklaverei gerechtfertigt. Das „Wie“ ergibt sich aus der Definition einiger Eigenschaften als unmenschlich. Denken sie nur an all die pseudowissenschaftlichen Lehren über die Größe des Gehirns und so weiter, die es lange Zeit gab. Man kann sagen, dass Afrikaner Tiere seien, wie es Hegel tat, und es gibt immer Menschen, die bereit sind, es zu glauben. Heute glauben einige Israelis, dass Araber Tiere seien. Letztlich ist das ganz einfach und gerade das ist die Tragödie. Deshalb wäre ich die Letzte, die sagt, dass postkoloniale Kritik bedeutet, dass nur die anderen – in diesem Fall die Weißen – Rassisten sind. Anstatt zu sagen, dass sie rassistisch sind, müssen wir uns mit uns selbst auseinandersetzen. Rassismus ist eine Krankheit, die alle Menschen befällt, nicht nur meine Feinde. Schaut man sich die faktische Postkolonialität nichtwestlicher Staaten an, sieht man, wie diese Staaten teilweise zugrunde gegangen sind. Die postkolonialen Nationen sind keine guten Orte.
Könnten wir also sagen, dass Rassismus der wahre Universalismus ist?
Wenn Sie eine dumme Behauptung aufstellen wollen, können Sie das tun. Aber Rassismus ist von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich. Der Rassismus meiner Klasse und Kaste ist ganz anders als der Rassismus Ihrer Klasse und Kaste. Warum sollte man also behaupten, er sei universell? In dem Moment, in dem man anfängt, sich ernsthaft mit dem Thema zu befassen, wird man erkennen, dass jeder Rassismus von bestimmten Formen der Verallgemeinerungen abhängig ist, die aus dem Gefühl einer eigenen Normalität hervorgehen. Wir müssen aufhören, dieses eine Wort zu suchen, mit dem wir die Verallgemeinerung treffen und sagen können, okay, jeder hat es. Was beweist man, wenn man sagt, etwas sei universell? Nichts, außer dass man sich nicht die Mühe machen will, Details zu betrachten.
In Ihrem Buch Can the subaltern speak? haben Sie für ein Denken der Peripherie und die Stärkung subalterner Subjekte plädiert.
Das war 1983. Danach hat sich mein Leben geändert und ich bekam eine andere Sichtweise. Ich erkannte, dass es darum geht, für die Subalternen zu arbeiten, anstatt über sie aus der Perspektive der Geschichte meiner Familie heraus zu sprechen.
Würden Sie das erklären?
Ich habe den Begriff der Subalternen von Antonio Gramsci übernommen und halte bis heute an seiner Definition fest: Subalterne sind kleine soziale Gruppen am Rande der Geschichte. Wenn historische Verallgemeinerungen gefällt werden, werden weder die Existenz noch die Meinung dieser Menschen berücksichtigt. 1986 wurde ich gebeten, Schulen für einige indische Subalterne zu eröffnen. In diesen Schulen versuche ich bis heute eine Infrastruktur aufzubauen, die es uns ermöglicht, die Subalternen hören zu können. Dabei geht es weniger darum, die Subalternen zu stärken, sondern vielmehr uns selbst. Wir erwiesen uns als defizitär, weil wir nicht fähig waren, die Subalternen zu hören. Es geht also nicht darum, die Subalternen zu stärken, sondern darum die Subalternität zu zerstören. Keine Gruppe sollte am Rande der Geschichte bleiben. Besonders heute, wo in den postkolonialen Staaten die Subalternen wählen dürfen und den größten Teil der Wählerschaft ausmachen. Sie sind keine Minderheiten. Nach wie vor hält man sie für subaltern und für unwissend, als ob sie keinen Verstand hätten. Wenn ihnen überhaupt etwas gegeben wird, dann ist es etwas für ihr leibliches Befinden, um sie so gefällig zu machen. Sie sind mit Abstand die größte Wählerschaft und sie sind es, die die Tyrannen dieser Welt ins Amt bringen. Letztlich sind wir alle davon betroffen: in Indien, der Türkei und den Vereinigten Staaten haben wir bereits Tyrannen und Frankreich, Italien, Deutschland und andere europäische Länder bewegen sich immer weiter nach rechts. Was glauben Sie, warum das so ist? Es liegt daran, dass die größten Teile der Wählerschaft subaltern bleiben. Heute liegt also eine vollkommen andere Arbeit vor uns, als den Subalternen eine Stimme zu geben oder sie stark zu machen.
Was können wir gegen diese historische Entwicklung tun?
Wir müssen genau hinschauen, statt alles immer zu verallgemeinern, denn die Subalternen können nicht verallgemeinert werden. Die Subalternen beispielsweise, für die ich in meiner Schule arbeite, haben keine Ähnlichkeit mit den Subalternen in Nordwestindien. Ihre Erscheinungsform hängt wesentlich von ihren jeweiligen Lebensumständen ab. Außerdem sollten wir aufhören von Stärkung zu sprechen. Wer sind wir, dass wir subalterne Subjekte stärken könnten? Die Subalternen sind nicht dumm. Das eigentliche Problem ist, dass wir sie nicht hören können. So verstanden ist die Analyse der Subalternen von Wahlen, dass es im Grunde nur um Macht und Gewalt ginge und nicht um sie, richtig, denn das ist es, was sie sehen und erfahren. Wenn sie nicht geschult werden, werden sie das immer sehen.
Glauben Sie, dass es für Nichteuropäer wichtiger ist, Philosophen aus ihren eigenen Kulturen zu lesen statt Kant?
Nein, machen Sie Witze? So etwas sagen nur sehr elitäre Leute. Natürlich sollten sie auch Philosophen aus ihren Kulturen lesen, aber ausschließlich sie lesen: nein! Aber gleichzeitig sollten sie auch nicht nur europäische oder amerikanische Philosophen studieren. Und ohne Frage wäre es gut, andere Sprachen zu lernen, die nicht Französisch, Englisch oder Deutsch sind, um philosophische Werke zu lesen, die beispielsweise aus Afrika kommen. Aber es ist wirklich absurd zu sagen: Lest nur eure eigenen Sachen. Ein wesentlicher Grund, warum der Kolonialismus in nichteuropäischen Ländern funktionierte, war, dass die Menschen vor Ort kollaboriert haben. Wenn man sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen will, wie es zum Kolonialismus kam und wie er sich etablieren konnte, reicht es nicht, die eigene Literatur zu studieren. Das halte ich wirklich für gefährlich.
Was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste, was wir von Kant lernen können?
Was mir an Kant am besten gefällt, ist das, was von vielen als die vierte „Kritik“ bezeichnet wird: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Kants Konzept der „bloßen Vernunft“, das etwas ganz anderes ist als die reine oder praktische Vernunft, ist faszinierend. Und die Art und Weise, wie er mit dem Christentum umgeht und Christus als Lehrer beschreibt, ist wunderbar zu lesen. Ich halte es für sehr treffend, die Propheten der Religion als Ekstatiker, die von einer besonderen Art von Poesie bewegt werden, zu beschreiben. Sobald gewöhnliche Menschen zu ihren Anhängern werden und die Religion institutionalisieren, gehen die Prophetie und ihre Einzigartigkeit verloren. Kant lehrt uns, wie man der Religion einen Platz in der Gesellschaft gibt. Und dies ist gerade in der heutigen Zeit, wo die Religion wirklich alles kaputt macht, von größter Bedeutung. Selbst Atheisten wie ich können etwas daraus lernen.
Viele Leute betonen, Kants Reflexionen über die Menschenwürde. Was denken Sie darüber?
Ich glaube nicht, dass die Menschenwürde existiert. Ich bin keine blinde Anhängerin dieser wunderbar scheinenden Idee, die am Anfang des Kapitalismus von Europäern geprägt wurde. Meiner Meinung nach sind die prägenden Affekte des Menschen Angst, Gewalt und Gier.
Vielleicht ist auch nicht so sehr die Frage, ob die Menschenwürde existiert, sondern vielmehr, ob wir das Konzept als Idee für politische Aktionen nutzen können.
Wie lässt sich das Wort „Würde“ in die vielen Sprachen der Welt übersetzen? Das muss man sich wirklich fragen, denn nicht jeder denkt in Deutsch oder Englisch. Ich lese, schreibe und publiziere auf Bengali und konnte das Wort nirgendwo finden. Natürlich könnte man sich ein Synonym ausdenken. Aber das ist nicht das, worüber wir hier reden. Das Wort Würde existiert nicht in jeder Sprache und ist vielmehr ein Kunstwort. Wie gezeigt, mussten wir, um es zu bewahren, die Ureinwohner als nicht ganz menschlich definieren. Diese Art von Wörtern stammt aus der bürgerlichen Revolution, die die ganze Sache mit den Menschenrechten erfunden hat. Aber sie sind falsch. Es gibt kein unveräußerliches Menschenrecht. Wenn Sie aber etwas Gutes aus dieser Idee lernen, dann lassen Sie sich darauf ein, denn vielleicht wird es Ihnen und anderen guttun. Ich werde niemanden zensieren. •
Gayatri C. Spivak ist Professorin für Literaturwissenschaft an der Columbia University in New York. Sie gilt als führende Denkerin der postkolonialen Theorie. Bekannt wurde sie durch ihre Werke „Can the Subaltern Speak?“ (Turia + Kant, 2007) und „Kritik der postkolonialen Vernunft“ (Kohlhammer, 2013).
Kommentare
Meiner Einschätzung nach könnte es den "Subalternen" in Indien und vielerorts vielleicht besser gehen, wenn dort ein Zweiparteiensystem mit zwei gut konzipierten Parteien versucht würde. Meine Vorstellung für die beiden Parteien sind eine Partei für Befreiung für das Dorf/die Welt und eine Partei für das Beste für alle durch das Dorf/die Welt. Meiner Meinung nach im besten Kant'schen Sinne.
Ich danke für den Artikel und die Möglichkeit, zu kommentieren.
Frau Spivak behauptet zu Beginn des Interviews, sie sei eine Bewunderin Kants und folge ihm. Dann endet das Interview mit der Behauptung Menschenwürde existiere nicht und Menschenrechte seien nicht unveräußerlich. Ich bekomme das auch nach der Lektüre des Mittelteils nicht zusammen. Aber vielleicht kann es mir jemand erklären?