Reinhard Merkel: „Die Idee des olympischen Sports muss reformiert werden“
Am Freitag begannen die Olympischen Spiele 2024 in Paris, wobei sich am regulativen Prinzip der Wettkämpfe seit der Antike nichts geändert hat. Noch immer gilt: Schneller, höher, weiter! Dabei erzwingen neue biotechnische Möglichkeiten der Körperoptimierung eigentlich ein Umdenken, meint der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel.
Herr Merkel, Sie waren selbst Leistungsschwimmer und haben im Alter von 18 Jahren an bei den olympischen Spielen 1968 in Mexiko teilgenommen. Welchen Platz haben Sie belegt?
Ich wurde Sechster in der Disziplin 400-Meter Lagen. Die Olympischen Spiele habe ich damals als ein ungeheuer intensives Erlebnis wahrgenommen. Für mich war das große Ziel, das Finale zu erreichen, und das ist ja gelungen.
Viele Jahrzehnte später haben Sie sich dann erneut mit dem olympischen Sport beschäftigt. Diesmal als Rechtsphilosoph.
Nach der Olympiade 2016 in Rio begann ich mich mit der Problematik des Dopings zu beschäftigen, und von da aus mit den Grundlagen der olympischen Idee. Mir wurde klar, dass angesichts der großen Herausforderungen des olympischen Sports der Zukunft diese Idee nur überleben kann, wenn sie tiefgreifend reformiert wird. Um das zu verstehen, müssen wir die Idee und ihre Entstehungsgeschichte ein wenig genauer betrachten. Deren zentrale Figur, Pierre de Coubertin, war ein sehr dezidierter, ja unbedingter Anhänger dessen, was er als „Aristokratie der Leistung“ verstand. Ihm verdanken die olympischen Spiele ihren Leitspruch „citius, altius, fortius“ („schneller, höher, stärker“). Der Hochleistungssport müsse dem „agonalen Prinzip“ folgen, einer Art darwinistischer Maxime des auslesenden Wettkampfs. Ein agonales Prinzip kannten auch Aristoteles und Immanuel Kant. Aber – und das ist ein wichtiger Unterschied – beide haben zugleich ein Prinzip des vernünftigen Maßes, der Mitte, in heutiger Diktion der Verhältnismäßigkeit. Bei Aristoteles heißt dieses Maß „Mesotes“. Coubertin kennt so etwas nicht. Er kennt nur den Blick nach vorne – ins Unbeschränkte: immer schneller, immer höher, immer stärker. Dass er gleichwohl gewisse Grenzen, die die Natur dem Menschen auferlegt, als unhintergehbar voraussetzte, versteht sich. Aber viele dieser physischen Schranken sind heute mit den Hightech-Möglichkeiten einer biotechnischen Optimierung des menschlichen Körpers überwindbar. Und diese verfügbare Maßlosigkeit führt zu der Konsequenz, dass Verbände und Sportler alles Erdenkliche tun, um Leistungen zu steigern, so lange es nicht auf den Dopinglisten der Weltverbände steht – mit manchmal verheerenden Folgen für die Gesundheit und immer mit Erosionswirkung für die Prinzipien des Sports, vor allem das der Fairness.
Dass der Leistungssport oftmals ungesund ist, scheint unstrittig zu sein. Aber inwiefern ist diese Leistungsoptimierung destruktiv für die Idee des Sports selbst?
Wir bewundern ja nicht den rein physikalischen Vorgang einer bestimmten sportlichen Leistung an sich, sondern diese Leistung nur als eine, die unter den Bedingungen der physischen Grenzen des Menschseins erbracht wurde. Nur vor diesem Hintergrund imponieren uns solche Leistungen als exzeptionell. Würden diese Grenzen artifiziell, nämlich durch biotechnische Interventionen verschoben, würde die zusätzliche Leistung selbst entwertet. Nehmen wir das Beispiel des Sprints: Schwerlich wird je ein Mensch unter den heutigen Bedingungen der speziestypischen Körperlichkeit 100 Meter in acht Sekunden laufen. Aber was sollte an dem Umstand, dass ein Lebewesen 100 Meter in 8 Sekunden laufen kann, an sich bewundernswert sein? Nicht wenige Tiere, Geparden und Windhunde zum Beispiel, können das noch schneller. Daran gibt es nichts zu bewundern.
Und Inwiefern werden diese natürlichen Grenzen zunehmend gesprengt?
Es ist klar, dass im Hochleistungssport die Naturausstattung des Menschen zunehmend an Grenzen stößt und die Möglichkeiten einer natürlichen Leistungssteigerung sich allmählich erschöpfen. Hier kommt das Doping ins Spiel: Zum Zeitpunkt, als das agonale Prinzip propagiert wurde, waren die biotechnischen Möglichkeiten der Gegenwart unvorstellbar. Wenn „citius, altius, fortius“ – immer schneller, immer höher, immer stärker – die regulative Idee ist, dann ist Doping ihr konsequenter Ausdruck.
Gut, aber Doping ist ja verboten.
Ja. Aber gerade weil das Leitmotiv der Spiele die maximale Leistungssteigerung ist, versuchen Sportverbände auf der ganzen Welt, neue Mittel und Wege einer erlaubten oder nicht kontrollierbaren Form von Doping zu finden. Wir sollten nicht naiv sein: was das Doping begrenzt, ist nicht ein moralischer Imperativ der Fairness, sondern sind die drohenden Sanktionen. Die Idee hinter dem Dopingverbot ist, dass Sport ein Wettbewerb zwischen menschlichen Fähigkeiten, nicht zwischen technologischen Finessen sein soll − zwischen Athleten, nicht zwischen Ingenieuren am menschlichen Körper. Dass Problem ist aber, dass die Linie zwischen erlaubter Natur und verbotener Biotechnik nicht ein Graben, sondern eher eine Brücke ist: ein Kontinuum aus winzigen Einzelschritten, aus Veränderungen, von denen keine einen Unterschied zur vorherigen oder nachfolgenden aufweist, der moralisch bedeutsam wäre.
Welche neuen Methoden des Dopings gibt es denn, welche nicht mehr durch die World Anti Doping Agency (WADA) kontrolliert und sanktioniert werden können?
Es gibt Möglichkeiten eines Gendopings, also der Veränderung oder Manipulation von Genen, um die sportliche Leistung zu verbessern. Aber sie stehen auf der Dopingliste der WADA. Oder nehmen Sie die Neurostimulation, bestimmte Interventionen ins Gehirn zur Steigerung der physischen Leistungsfähigkeit, etwa die „transkraniale Magnetstimulation“ bestimmter Hirnareale. Ich bin überzeugt, dass damit bereits experimentiert wird. Und das Feld solcher Möglichkeiten wird stetig zunehmen.
Was bedeutet das für die olympische Idee?
Wenn wir die Idee und damit auch die Praxis des olympischen Sports nicht reformieren, wird es ihn in 50 Jahren vielleicht nicht mehr geben. Das Verschwinden der Spiele oder ihre Perversion – in der wir gleichsam keine Menschen, sondern artifizielle Übermenschen zu sehen bekämen – wäre ein großer Verlust für die Menschheit: das Verschwinden eines Horizonts zahlreicher Emotionen: der Ästhetik, der Idee einer Vervollkommnung des eigenen Selbst, der Symbolik des friedlichen Wettstreits, der Projektionsfläche für zahlreiche Sehnsüchte des Menschen. Wir sollten Wege finden, den hypertrophen Sinn von „schneller, höher, stärker“ zurückzunehmen und ihn – mit Aristoteles und Kant – in Formen seines vernünftigen Maßes zu übertragen. Gelingt uns das nicht, werden wir, fürchte ich, Zeugen der tragischen Zerstörung einer Menschheitsidee durch sich selbst. •
Reinhard Merkel ist emeritierter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Bioethische Fragestellungen, speziell das Neuro-Enhancement, gehören zu seinen zentralen Forschungsfeldern.
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