Verrückte Geschichte
In der Geschichte, so Hegel, offenbart sich „der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. Doch wie genau sieht diese voranschreitende Bewegung aus? Ein Essay von Slavoj Žižek über die Kraft der „Verrückung“ und die Entstehung des Neuen.
Es kann als Gemeinplatz angesehen werden, dass die Geschichte für Hegel ein Prozess ist und sich durch eine stufenweise Aufhebung auf Vernunft und Freiheit als ihr finales Ziel zubewegt. Aber es gibt eine Dimension, die eine solche Vorstellung von linearem Fortschritt verfehlt. Diese Dimension wird am besten durch den Begriff der „Verrückung“ erfasst. Verrückung ist ein Begriff, dessen richtiges Verständnis es uns erlaubt, einige zentrale Missverständnisse auszuräumen, die Hegels Begriff der Aufhebung immer wieder heimsuchen.
Betrachten wir zunächst ein vielleicht unerwartetes Beispiel: Bernard Herrmanns Klarinettenquintett Souvenirs de voyage (1967), das mit derselben melodischen Linie beginnt, die er ein Jahrzehnt zuvor am Anfang des berühmtesten Stücks (Scène d’amour) aus seiner Partitur von Hitchcocks Vertigo (1958) verwendet hat. Wir haben es hier mit einem schönen Fall von Verrückung zu tun; mit dem Herausreißen eines Elements – in diesem Fall einer melodischen Linie – aus seinem Kontext und der Platzierung in einem anderen Kontext, der einer abweichenden Logik folgt. In unserem Fall ist dieselbe melodische Linie zunächst (in Vertigo) das musikalische Eröffnungsmoment eines Satzes, der unaufhaltsam auf ein romantisches Crescendo zusteuert, das sich stark an Wagners Tristan anlehnt; ihre Wiederaufnahme im Klarinettenquintett bleibt hingegen fest im vorwagnerianischen und klassischen Raum eines Themas und seiner Variationen. Das Überraschende ist hier die rückläufige Richtung dieser Verschiebung: zuerst ein romantischer Vorstoß in Richtung eines klimatischen Crescendos, dann der Schritt zurück in einen eher klassischen Kontext, in dem solche Crescendi ausgeschlossen sind.
Aber da wir uns hier mit der Geschichte und nicht mit Anekdoten aus der Musik befassen, wollen wir uns dem historischen Fortschritt auf seinem Höhepunkt zuwenden: der Französischen Revolution. In seinem Buch The Haitians. A Decolonial History lehnt Jean Casimir die Vorstellung ab, die Haitianische Revolution sei die wahre Vollendung der Ideale der Französischen Revolution. Er argumentiert stattdessen, dass „Haiti das Projekt der Moderne eher verrückt hat als vollendet“.
Eurozentrische Falle
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo