Adrian Daub: „Wer aktuell vor Cancel Culture warnt, wird damit nicht arm“
Im texanischen Austin soll eine Universität entstehen, an der es keine „Cancel Culture“ gibt. Im Interview erläutert der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Adrian Daub, warum es an US-Unis sehr wohl ein Problem mit Bevormundung gibt, er das Projekt aber dennoch für aussichtslos hält.
Herr Daub, Sie lehren an der renommierten Stanford University in Kalifornien, die sich bereits zu ihrer Gründung 1891 das Motto „Die Luft der Freiheit weht“ gab. Was halten Sie von dem Vorhaben in Texas?
Ich halte nicht besonders viel von dem Projekt, weil ich nicht glaube, dass es eine „Cancel Culture“ in der Form gibt, wie es die Initiator:innen darstellen. Diese behaupten nämlich, dass praktisch nur von links „gecancelt“ wird und dementsprechend ausschließlich tendenziell rechtsgerichtete Persönlichkeiten trifft. In tatsächlichen Zahlen lässt sich das allerdings nicht zeigen. Oft wird gesagt, dass Studierende oder die Medien den Rauswurf von Professor:innen herbeiführen würden. Wenn man allerdings genauer hinsieht, gehen die meisten Kündigungen mitnichten auf deren Konto.
Es gibt an US-amerikanischen Universitäten also kein Problem mit Bevormundung und Zensur?
Auf jeden Fall gibt es das. Nur sind keinesfalls ausschließlich, oder vor allem, Konservative betroffen. Es kann ja zum Beispiel viel weitreichendere Folgen haben, wenn Geldgeber:innen einer Universität oder der Staat selbst Mittel für unliebsame Forschung kürzen. Man muss sich klar machen, dass die meisten Legislativen der Bundesstaaten in den USA in der Hand der Republikanischen Partei sind. Wenn hier der Druck auf staatliche Universitäten groß genug ist, kann das handfeste Konsequenzen für Professor:innen und ganze Campus haben. Wer mit Cancel Culture also ein Phänomen meint, das nur von linken Student:innen kommt, zeichnet ein absichtlich verschwommenes Bild der Lage. Das würde ich auch den Initiator:innen der University of Austin unterstellen.
Wie erklären Sie sich, dass unter anderem der Sozialpsychologe Jonathan Haidt von der New York University sowie die ehemalige New-York-Times-Kolumnistin Bari Weiss zu den Unterstützern des Vorhabens zählen, wo diese mit ihren Gedanken doch enorme Reichweite genießen, also kaum die Rede davon sein kann, dass sie mundtot gemacht würden?
Wer aktuell vor Cancel Culture warnt, wird damit nicht arm. Das muss man sagen. In diesem Sinne verstehe ich das Vorhaben University of Austin auch als einen Pitch, um noch mehr Geld zu verdienen. Denn wenn die Idee tatsächlich wäre, eine Uni zu gründen, in der man irgendwann Vorlesungen beiwohnen kann, grenzt das im Jahr 2021 schon fast an Wahn. Heute eine Uni zu gründen ist wie im Januar 2008 noch schnell ein paar Häuser zu kaufen. Denn die Pandemie ist für die etablierten und reichen Unis in den USA sehr gut gewesen. Für alle anderen war und ist die Krise ein Überlebenskampf: es sind teilweise massiv Studiengelder weggebrochen, von der Regierung kommt immer weniger Geld. Die Vorstellung, dass man hier als weitere Bewerber:in mitmischen will, ist fast schon bizarr. Auch, weil allen Beteiligten klar sein dürfte, dass Universitäten in den USA ein ziemlich disruptionssicherer Markt sind.
Disruptionssicher im Sinne von: Bis dato gibt es noch kein Startup, das Harvard den Rang abgelaufen hätte? Anders als es Uber für die Taxibranche und AirBnB für das Hotelgewerbe geschafft haben?
Richtig, wenn Sie morgen eine Universität eröffnen, die ihren Student:innen bietet, was Harvard ihnen bietet, gäbe es keinen vergleichbaren Zulauf, weil sie eben nicht den Ruf von Harvard hätte. Das ist wahrscheinlich nicht gut so, muss aber mitgedacht werden. Ich gehe deshalb davon aus, dass die University of Austin wohl eine bessere Summerschool werden wird. Viele der involvierten Personen verdienen seit Jahren daran, dass sie vor „Cancel Culture“ warnen. Deshalb liegt für mich der Gedanke nahe, dass diese Uni eine weitere Einkommensquelle werden soll, um weiter Spenden einzusammeln, ein bisschen Kursgebühren, damit am Ende nochmal ein Häuschen im Grünen rausspringen könnte. Außerdem wäre es ja die reinste Illusion, zu denken, dass Leute wie Jonathan Haidt ihre Position an der NYU aufgeben würden, um ausschließlich an der University of Austin zu unterrichten. Denn für viele bezieht das Projekt seinen Reiz gerade daraus, dass es durch die Professor:innen eine Anbindung an die Ivy League-Universitäten hat. Wer einfach auf eine Uni will, an dem es keine „Cancel Culture“ gibt, also konservativ geredet wird, bis sich die Balken biegen, kann sich schon jetzt eine von circa 200 christlichen Universitäten aussuchen.
Dass eine wirkliche Universität mit mehreren Fakultäten und Gebäuden entsteht, halten Sie also für unwahrscheinlich?
Amerikanische Universitäten sind Flugzeugträger. Das merkt man spätestens, wenn man an einer arbeitet. Vorlesungen und Seminare sind zwar wichtig, aber selbst zweit- oder drittklassige Unis haben Athletic Centers, Aquatic Centers, Stadien, Labore, einen Rittstall und, und, und. Es gibt zwar die For-Profit-Colleges, die sehr viel effizienter daherkommen, und auf Schnickschnack wie Aquatic Centers verzichten – die aber erstens immer stark unter Abzockeverdacht stehen, und andererseits nur für die Lehre da sind. Geforscht, ob frei oder unfrei, wird da gar nicht. Also kann ich mir nicht vorstellen, dass die Initiatoren wirklich Universität im umfänglichen Sinne meinen, wenn sie Universität sagen. Denn wie soll denn die Fakultät für Chemie an der Universität of Austin aussehen? Welche renommierten Forscher:innen holt man auf diesem Gebiet, wenn das wichtigste Alleinstellungsmerkmal zu lauten scheint, dass hier nicht gecancelt wird? Zudem werden sich viele Probleme mit Mitgliedern wiederholen, wenn eine wirkliche Uni entstehen soll.
Würden Sie hierfür ein Beispiel geben?
Nehmen Sie den Fall des Philosophen Peter Boghossian, der von Student:innen gecancelt worden sein soll, weil er Teil des sogenannten „Sokal Squared Hoax“ war. Mit zwei anderen Autor:innen hat er insgesamt zwanzig Artikel unter Pseudonym geschrieben, die teils hanebüchene Themen und Argumentationen hatten und diese dann in führenden Fachzeitschriften zu platzieren versucht. Das Ziel: Zeigen, dass einzelne „linke Buzzwords“ ausreichen, um wissenschaftliche Anerkennung zu finden. Ein Paper trug beispielsweise die Überschrift „Mondbegegnungen und die Bedeutung von Schwesternschaft: Eine poetische Darstellung der gelebten feministischen Spiritualität“. Wer sich den Fall Boghossian allerdings näher ansieht, wird feststellen, dass er nicht von Student:innen gecancelt wurde, sondern Ärger mit dem internen Prüfungsausschuss seiner Uni bekommen hat, weil er Menschen für wissenschaftliche Zwecke über Gebühr hinters Licht geführt. Das verstößt gegen wissenschaftliche Standards. Ich sollte dazusagen, dass ich die Rolle solcher Internal Review Boards durchaus kritisch sehe und selbst im Hickhack mit einem solchen Board liege. Aber solche Boards, verpflichtend für jede Universität in den USA, sind einigermaßen autark und bestehen aus Administrator:innen und Rechtsanwält:innen, die mit der politischen Ausrichtung einer Uni überhaupt nichts zu tun haben. Sollte die University of Austin also eine wirkliche Uni werden, die dadurch eben auch ein solches Board braucht, wird Herr Boghossian derartige Methoden auch dort nicht anwenden können.
Wie nehmen Sie den Diskurs rund um „Cancel Culture“ in Deutschland wahr?
Hier ist die Debatte sicher noch weiter von der Realität entfernt als in den USA. Bei den Fällen, die als Cancel Culture bezeichnet werden, handelt es sich ja meist um reale Vorkommnisse, die allerdings oft von ideologischen Interessengruppen aus dem Kontext gerissen und tendenziös interpretiert werden. Im Anschluss werden sie dann oft von Journalist:innen aufgegriffen, die teils nicht so genau hinschauen, wie man es sich vielleicht wünschen würde. Am Ende gibt es dann Überschriften wie „Studenten wollen Kant verbieten!“, obwohl das nicht mal die betreffenden Zweitsemester wirklich gesagt haben. Und selbst wenn sie es hätten, würde sich immer noch die Aufmerksamkeitsfrage stellen: warum ist uns eine Aufregung unter Zweitsemestern irgendwo in den USA so viel Aufmerksamkeit wert? Und wieso scheinbar ähnlich gelagerte Fälle eben nicht? Hier in Deutschland wissen einfach wenige, dass es etwa im Fall von Boghossian nicht sein kann, dass die Uni ihn mit einem Forschungsverbot belegt hat, wie es teils dargestellt wurde. Das nämlich wäre höchst illegal und Boghossian müsste nicht an der University of Austin lehren, sondern könnte sich mit dem Geld, das ihm seine Uni hätte zahlen müssen zur Ruhe setzen.
Wer sich ein bisschen eingehender mit dem Phänomen „Cancel Culture“ befasst, stellt fest, dass die Gründe für Entlassungen etc. vielfältig sind. Kann man denn da überhaupt von einer „Culture“ sprechen?
Aus der Sicht derer, die den Begriff verwenden, bietet er sich aus zweierlei Gründen an. Erstens, das sprachen Sie gerade an, fasst man so verschiedenste Phänomene wie das Ausladen einer Komikerin und den Weggang einer Professor:in unter einem Begriff und suggeriert so eine Breite, die die Empirie nicht hergibt. Zweitens lassen sich Debatten auf Twitter so als repräsentativ für den gesamten Diskurs darstellen. Twitter ist allerdings nicht die Welt und nur weil in der eigenen Timeline Leute nervig oder nicht der eigenen Meinung sind, muss das nichts mit Canceln zu tun haben. Es ist schlicht falsch von Twitter-Feeds auf den Rest der Welt zu schließen und eine Kultur am Werk zu sehen, wo es sich eigentlich um 5000 Accounts handelt. Ich würde deshalb weder mit dem Blick nach links noch nach rechts von einer Cancel Culture sprechen.
Was gewinnen wir, wenn wir versuchen, den Begriff zu vermeiden?
Wir würden im Hinblick auf rechte Mobs beispielsweise nicht länger unterschlagen, dass diese oft von mächtigen Akteuren initiiert und oder befeuert werden. Ebenso könnten wir klarer differenzieren, wer wann Macht wie nutzt, um unliebsame Meinungen zum Schweigen zu bringen. So sind Studierende wesentlich harmloser – nervig vielleicht, aber harmloser – als gewählte Vertreter des Staats die ganzen Einrichtungen die Mittel kürzen, wenn sie bestimmte Inhalte nicht auf dem Lehrplan haben wollen. Außerdem könnten wir Verantwortung klarer zuschreiben, die Täter:innen zur Rechenschaft ziehen und den Opfern besser helfen. Die Rede vom Canceln als einer Kultur macht die Zurechnung von Verantwortung sehr diffus und lässt wichtige Fragen praktisch nicht zu. Beispielsweise: Was können wir denn verbessern, um den Opfern zu helfen? Wie können wir sicherstellen, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung ernst genommen wird, ohne dass jemand bedroht wird? Hier gibt es durchaus Handlungsmöglichkeiten, die aber tendenziell blockiert werden, wenn man sagt: Dabei handelt es sich um eine Kultur, dagegen hilft nur noch der Rückzug.
Und einen solchen Rückzug stellt ein Projekt wie die University of Austin dar?
Dieses Projekt ist exakt die Art von Rückzug in die eigene Bubble, die man meinen Student:innen immer vorwirft. Ich unterrichte vornehmlich nichtweiße Student:innen und nehme mit dieser diversen Gruppe mit they/them Pronomina, Regenbogenstickern auf der Jacke und Black Lives Matter-Sympathien nicht nur Kant, Hegel, Nietzsche und so weiter durch, sondern auch Leute wie Oswald Spengler und Stefan George. Die Kids machen das alles perfekt mit – aber ich denke, das liegt auch daran, dass ich mir Gedanken darüber mache, wie das Material bei denen ankommt, weil ich Empathie für ihre Situationen und Perspektiven entwickle. Und nicht pampig ins Feuilleton stampfe, wenn mir mal jemand widerspricht, wo ich das dann als Teil irgendeiner „Kultur“ interpretiere. Verantwortung füreinander übernehmen heißt doch gerade, das Gegenüber als Individuum ernst zu nehmen, es nicht zum gesichtslosen Teilaspekt eines Massenphänomens zu interpretieren. •
Adrian Daub, geboren 1980 in Köln, lehrt als Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University. „Was das Valley denken nennt“ (169 S., 16 €) erschien soeben im Suhrkamp Verlag.
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