Der Allesfresser
Jüngst kaufte Amazon das traditionsreiche Filmstudio MGM. Medienwissenschaftler Marcus S. Kleiner erläutert, warum die Folgen davon weit verheerender sein könnten als weichgespülte Bond-Filme.
Heiner Müller sagte einmal im Gespräch mit Alexander Kluge, dass die Demokratie jeden Widerstand gegen sie verarbeiten und „alles essen“ könne. Kluge brachte diese Überlegung auf eine prägnante Formel: „Demokratie als Allesfresser.“ Das war 1995. Und im Fernsehen. Heute ist es nicht mehr die Demokratie, die ein „Allesfresser“ ist, denn Demokratie bedeutet, wie viele Zeitdiagnosen nahelegen, zunehmend Spaltung. Ein konfliktreiches Nebeneinander im Partikulariversum der Gegenwart.
Das Demokratieverständnis der großen, vor allem US-amerikanischen Digitalunternehmen besteht hingegen darin, ein „Allesfresser“ zu sein. Nicht Spaltung, sondern maximale Integration ist das Erfolgsmodell. Es wird alles aufgekauft und in das jeweilige Geschäft integriert, das als Konkurrenz wahrgenommen wird oder dazu beiträgt, die eigne Stellung weiter auszubauen.
Das zeigte zum Beispiel Amazon mit dem aktuellen MGM-Deal. Das größte Cloud-Kaufhaus der Welt, dessen Schriftzug uns von A bis Z anlächelt, um die Vollständigkeit im Warensortiment zu veranschaulichen, hat das altehrwürdige Filmstudio jüngst für 8 Milliarden Dollar gekauft – und besitzt damit auch die Rechte an vielen Filmklassikern.
Feindliche Übernahme
Dieser Deal wurde von Beobachtern als „feindliche Übernahme mit unabsehbaren Folgen“ bewertet. Zudem als Gefahr für die künstlerische Freiheit durch die primär am Gewinn und nicht an der Kunst interessierte Vermarktungslogik und den Portfolioeffekt von Amazon Prime Video.
Der Spiegel diskutiert diese Gefahr am Beispiel der Bond-Reihe sowie den kritischen Einlassungen John Logans, einem Drehbuchautor der berühmten Agentenreihe. Aus dessen Sicht bestehe nach Amazons Aufkauf von MGM die Gefahr, dass die Bond-Reihe dem Mainstreamgeschmack angepasst und damit seiner Eigensinnigkeit beraubt werden könnte. Die Bond-Reihe steht hierbei stellvertretend für die Freiheit der Filmkunst und aller, die im Filmbereich arbeiten.
Das Beispiel könnte aber nicht schlechter gewählt sein. Die Filmfigur „James Bond“ und die Bond-Filme stehen immer noch für ein archaisches Männerbild und ein antiquiertes Geschlechterrollenverständnis. Letzteres bestimmt auch die Vorstellung über weibliches Leadership in der Filmreihe. Das zeigte unter anderem die Vorgesetzte von „Bond“, „M“ (gespielt von Judi Dench), die eher eine Art von Mutterrolle für „Bond“ übernimmt und letztlich daran in der 23. Folge der Bond-Reihe, Skyfall, stirbt. Eine Veränderung der „Bond“-Figur und an der Bond-Filmreihe wäre allein schon aus dieser Perspektive mehr als überfällig. Gerade, wenn hierzu die Präferenzen der Nutzer:innen mit Blick auf die Filmstoffgestaltungen berücksichtigt würden.
Filmgeschichte gegen Aufpreis
Die Haltung von Logan repräsentiert aus dieser Perspektive nur den eigenen Wunsch nach Bestands- und Statuswahrung, also genauso weiterzumachen wie bisher. Sie ist aber keine produktive Kritik am Geschäftsgebaren von Amazon. Worin besteht dann aber die in Logans Kritik zum Ausdruck gebrachte Angst vor dem „Allesfresser“ Amazon? Die Antwort lautet: Mainstreamisierung.
Und diese Gefahr besteht durchaus: In einem Artikel in The Guardian spricht der Filmjournalist Nick Pinkerton etwa von der Auslöschung des Kinos und der Filmgeschichte durch die Streaming-Giganten. Er behauptet, dass Streamingdienste wie Amazon zwar umfangreiche Filmarchive anböten, dabei aber die Filmauswahl und mit ihr den Zugang zur Filmgeschichte mit Blick auf ihre Eigenproduktionen einschränken.
Vor 1980 produzierte Filme seien zum Beispiel auf Netflix, so Pinkerton, gar nicht vorhanden. Algorithmen-getriebene Filterblasen ermöglichten keine spontanen Begegnungen mit der Filmgeschichte. Die Streaming-Dienste zeigten immer nur an, was dem einzelnen Konsumenten gefallen könnte, und lenken dadurch vom Unbekannten weg.
Stillstand durch Bewegung?
Darüber hinaus wird die Mainstreamisierung des Programms und damit der Sehgewohnheiten der Nutzer:innen durch Eigenproduktionen, die man dann nur exklusiv bei Amazon Prime Video oder Netflix sehen kann, vorangetrieben. Ködern die beiden großen Streaming-Anbieter Filmschaffende doch mit zwei verführerischen Versprechen: massiver finanzieller Ausstattung sowie große künstlerische Freiheit.
Amazon und Netflix haben also verstanden, wie man große Schauspieler und erfolgreiche Regisseure ins Digitale holt: Indem man ihnen Rahmenbedingungen anbietet, die sich das klassische, analoge Fernsehen und auch das Kino nicht leisten können. Durch den Kauf großer Filmstudios wie MGM werden sodann einerseits noch die Möglichkeitsräume für die Eigenproduktionen erhöht, andererseits die der unabhängigen Filmstoffe diesseits der Streaming-Anbieter massiv eingeschränkt.
In dem eingangs zitierten Fernsehgespräch zwischen Alexander Kluge und Heiner Müller aus dem Jahr 1995 unterhalten sich beide auch über raumschaffende Momente. Mit dem Resultat, dass „das Ausdehnen als das Problem des Einverständnisses, das so lange voranschreitet, bis es stillsteht“ aufgefasst wird, und gerade durch diesen Stillstand „wieder eine neue Bewegung“ entstehen kann.
Apokalyptischen Reiter der Medienevolution
Als das Fernsehen stillstand, begann der Siegeszug der Streaming-Plattformen wie Netflix und Amazon Prime Video. Streaming ist zum Leitmedium unserer digitalen Medienzeit geworden – nicht nur mit Blick auf Bewegtbildinhalte. Jedes Leitmedium hatte bisher seine Zeit – und ist dann ein neues Leitmedium abgelöst worden. In den digitalen Medienkulturen befinden sich allerdings alle bisherigen Leitmedien immer wieder in neuen Mischverhältnissen. Diese digitalen Medienkulturen, und mit ihnen die Streaming-Dienste, müssen daher die weiteren Medienevolutionen nicht fürchten. Als „Allesfresser“ können sie jede weitere Medienevolution immer wieder von Neuem integrieren. Insofern werden die zukünftigen Evolutionen nicht mehr im Spannungsfeld von dynamischer Ausdehnung und Stillstand stattfinden.
Das neue Leitmedium Streaming und mit ihm Streaming-Plattformen wie Netflix und Amazon Prime Video wären als „Allesfresser“ deshalb die apokalyptischen Reiter der Medienevolution innerhalb der Digitaldemokratie. Wobei das schon fast nach einer neuen SciFi-Serie klingt, die erfolgreich bei Amazon Prime Video laufen und von uns mit der üblichen Angst-Lust gebingewatched werden könnte … •
Marcus S. Kleiner ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler an der SRH Berlin University of Applied Sciences und dort Vizepräsident für Kreativität und Interaktion. Zudem leitet er den Master-Studiengang „Medien und Kommunikation“. Jüngst erschien sein Buch „Streamland. Wie Netflix, Amazon Prime & Co. unsere Demokratie bedrohen“ bei Droemer Knaur.
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