„Titane“ – schauen bis es weh tut
Julia Ducournaus Film Titane, ausgezeichnet mit der Goldenen Palme, ist eine faszinierende Zumutung, meint Marcus Stiglegger. Mit Gilles Deleuze lässt sich erklären, warum uns das Abseitige so in seinen Bann schlägt.
Was Alexia treibt, ist ihre Liebe zu Metall. In ihrer Kindheit hatte die emotional indifferente Protagonistin in Julia Ducournaus Film Titane einen selbst provozierten Autounfall nur knapp überlebt. Seitdem trägt sie eine Titanplatte in ihrem tätowierten Schädel. Als junge Frau verdient sie ihr Geld als erotische Tänzerin auf Autoshows. Auffällig ist: Sie begehrt die Autos der Show ebenso wie das Piercing ihrer Geliebten. Den Menschen gegenüber bleibt sie kalt und agiert immoralisch, jenseits von Gut und Böse, denn wir erfahren bald, dass Alexia eine Serienmörderin ist: Einen Mann, der droht, übergriffig zu werden, tötet sie, ohne zu zögern, mit ihrer Haarnadel. Es gehört zu den markanten Aspekten von Titane, dass der Film in der Mitte eine komplette Wende vollzieht: Um sich der Polizei zu entziehen, nimmt Alexia nun die männliche Identität eines seit Jahren verschwundenen Jungen an, verändert gewaltsam ihr Äußeres und unterdrückt ihren wachsenden Schwangerschaftsbauch. Der Vater des Jungen, Vincent (Vincent Lindon), nimmt Alexia als den zurückgekehrten Sohn Adrien an.
Im Gegensatz zu den Exzessen des ersten Teils erleben wir nun die zärtliche Annäherung von Vater und ‚Sohn’ bzw. Frau sowie fragile Maskulinität und männerbündische Rituale. Julia Ducournaus Film vermittelt uns in diesem Erleben, was ‚performing gender’ im Sinne Judith Butlers bedeutet: Alexia, die nicht transsexuell ist, agiert mit ganzem Körper eine männliche Identität aus, mischt die männlichen und weiblichen Anteile neu, so dass man sie aufgrund dieses gender-bendings als queer begreifen kann. Doch der Film geht einen Schritt weiter in die Posthumanität: Ihr von dem Auto-Sexakt herrührende Schwangerschaft mündet in die Geburt eines Mischwesens aus Mensch und Metall, das von Vincent als Kind angenommen wird.
Zwischen Lust und Verweigerung
Aus dieser fragmentarischen Schilderung mag bereits deutlich werden, dass sich Titane weder über die Figurenpsychologie noch über die Kohärenz des Plots begreifen lässt. Titane ist ein performativer Film, der uns mittels der Intensität des unmittelbaren Ereignisses auf Bild- und Tonebene verführt und packt. Titane arbeitet mit intensiven, die Hör- und Sehsinne affizierenden Farben, Klängen und Choreographien, die in dieser Direktheit erfahren werden wollen; in Szenen drastischer Gewalt, sexueller Interaktion oder Körpermodifikation verwandelt sich die Intensität in eine Leidenserfahrung für das Publikum. Über Minuten erleben wir zum Beispiel Alexias Bemühung, sich selbst die Nase zu brechen, um Adrien ähnlicher zu werden. Es ist die quälende Dauer, die Betonung des Erlebens von Zeit selbst, die Ducournau anstrebt. Umso nachvollziehbarer wird, dass in der Folge auch die Kohärenz und Stringenz der Erzählung brüchig erscheint.
Mit Gilles Deleuze lässt sich das Verhältnis von Publikum zu Film masochistisch definieren: In der filmischen Performanz kommt es zu einer gewaltsamen Aufdrängung sinnlicher Affekte auf die geneigten Rezipienten. Wir geben uns dem Film hin, lassen uns manipulieren, verführen und leiten. Und nicht immer ist dieses Erlebnis sinnstiftend, sondern es kann verstören, verletzen und uns herausfordern. Oft bezieht sich das Erleben auf einen Zwiespalt, den wir in der Begegnung mit dem „Abjekten“ nach Julia Kristeva empfinden: In der Konfrontation mit tabuisierten und verdrängten Motiven sind wir angezogen und abgestoßen zugleich, was zu einer Krise führt. Dieser Prozess ist gerade nicht rational kontrollierbar, denn Farben, Strukturen, Klänge sind meist nicht-signifizierend, sie wirken unmittelbar auf die Sinnesorgane ein, überwältigen uns.
Wesentlich für die nomadische Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari ist der Prozess, das „Werden“. Titane ist ein Film der Transformation, der nicht nur das „Werden“ der Protagonisten vorführt, sondern uns dieses unmittelbar erleben lässt. Der Film vermittelt das eigene „Werden“ der formlosen ‚Materie’. Sich Titane mit allen Sinnen vor der Leinwand auszuliefern, heißt nicht weniger, als zum Teil dieses Prozesses zu werden. Filmerleben gerät hier zur konstruktiven Leidenserfahrung, zum ‚cinemasochistischen Erlebnis’, das uns zugleich einhüllt zwischen Begehren und Ekel, zwischen Lust und Verweigerung. Die kontroversen Reaktionen auf diesen Film sind das vorhersehbare Ergebnis eines intendiert schmerzhaften Rezeptionsprozesses und sprechen letztlich für ein Gelingen von Julia Ducournaus kompromissloser künstlerischer Vision. •
Titane erscheint am 3. Februar bei Koch Media als DVD und Blu-Ray.
Marcus Stiglegger ist Privatdozent für Filmwissenschaft an der Universität Mainz. Er studierte Filmwissenschaft, Theaterwissenschaft, Ethnologie und Philosophie, veröffentlicht seitdem zu Film und Kultur. Seit 2019 betreibt er den Podcast „Projektionen - Kinogespräche“.