Das philosophische ABC des Jean-Luc Godard
Der Filmemacher Jean-Luc Godard ist am 13. September gestorben. Er war ein produktiver und komplexer Autorenfilmer, dem wir einige der größten französischen Filme verdanken (Außer Atem, Die Verachtung, Elf Uhr nachts). Er hatte eine enge Beziehung zur Philosophie, einer Disziplin, von der er manchmal sagte, dass er „nichts von ihr verstehe“, die aber sein Werk immer wieder nährte. Eine Auswahl seiner Zitate im Stil des ABCs von Gilles Deleuze, den Godard sehr mochte.
Arendt
„In We’re still here ließ mich Anne-Marie Miéville einen Text von Hannah Arendt lesen, in dem sie sagte, dass Einsamkeit nicht Isolation ist. In der Einsamkeit sind wir nie allein mit uns selbst. Wir sind immer zwei in einem, und wir werden eins ... nur dank der anderen und wenn wir uns durch sie finden.“
Interview in Libération
Benjamin
„Das Bild kann nicht gesehen werden, es sind Annäherungen, wie bei Walter Benjamin, es ist eine Ferne, so nah sie auch sein mag.“
Interview in Libération
Bild
„Wenn ein gesondert betrachtetes Bild eindeutig etwas ausdrückt, wenn es eine Interpretation enthält, wird es sich durch den Kontakt mit anderen Bildern nicht verändern. [...] Es ist endgültig und unbrauchbar im System des Kinematographen.“
Geschichte(n) des Kinos
Definition
„Ich definiere nicht gerne. Ich bin dafür zweifellos zu alt oder zu jung.“
Interview in Libération
Deleuze
„Was Deleuze über das Kino geschrieben hat, ist nichtig! Nichts im Vergleich zu seinen philosophischen Texten. Man kommt auf absurde Weise von Eisenstein zu Cronenberg.“
Interview für SoFilm
Erzähler
„Befindet sich der Erzähler nicht in einer unmöglichen, schwierigen und einsamen Situation, heute mehr als früher? Ich glaube das.“
Deutschland Neu(n) Null
Fotografie
„Fotografie, das ist die Wahrheit. Und der Film ist die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde.“
Der kleine Soldat
Geschichte
„Ich möchte die Geschichte denen zurückgeben, die keine haben.“
Deutschland Neu(n) Null
Hegel
„Das Wenige, was ich von Hegel kenne, was ich an seinem Werk schätze, ist, dass er für mich ein Romancier der Philosophie ist, es gibt viel Romanhaftes in ihm ...“
Interview in Trafic
Inneres
„Wie kann man das Innere wiedergeben? Nun, eben dadurch, dass man brav draußen bleibt.“
Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard
Irrtum
„Es gibt nur wenige Unterschiede zwischen Irrtum und Lüge. Die subtile Lüge ist oft kaum von einem Irrtum zu unterscheiden. Man sucht und findet nicht. Das hat man in Frankreich im 18. Jahrhundert nicht gesehen, als man glaubte, man könne direkt in der Wahrheit leben. Ich glaube, dass das nicht möglich ist. Warum gab es Hegel, Kant, die deutsche Philosophie? Um uns zurück ins Leben zu bringen, uns dazu zu bringen, zu akzeptieren, dass man durch den Irrtum hindurchgehen muss, um zur Wahrheit zu gelangen“.
Die Geschichte der Nana S.
Kierkegaard
„Alle Bücher über Philosophie sollten, wie das von Kierkegaard, Philosophische Brocken heißen, dann würde man sich weniger schuldig fühlen, dass man sie nur in Brocken lesen kann.“
Interview in Libération
Kinematograph
„Der Kinematograph / das heißt / Formen, die den Weg / zum Wort gehen“.
Geschichte(n) des Kinos
Kino
„Das Kino, das war eine etwas seltsame, halb-technische Erfindung, die gleichzeitig versuchte, der Technik zu entkommen, die etwas anderes als ein Bild machen wollte.“
Interview für SoFilm
Kunst
- „Kunst bildet das Sichtbare nicht ab, sondern macht es sichtbar.“
- „Ja, aber trotzdem ist diese ästhetische Wirkung imaginär.“
- „Ja, aber dieses Imaginäre der ästhetischen Wirkung ist nicht die Widerspiegelung des Realen, sondern das Reale dieser Reflexion.“
Die Chinesin
Levinas
„Was es in Unsere Musik gibt, habe ich bei Levinas gefunden, in einem alten Buch mit dem Titel Die Zeit und der Andere. Es ist eine Fußnote. Ich mag sehr lange Fußnoten sehr gerne, deshalb fange ich damit an. Levinas sagt, dass der Tod das Mögliche des Unmöglichen ist, und nicht das Unmögliche des Möglichen, wie Jean Wahl es in Bezug auf Heidegger gesagt hatte.“
Interview in Libération
Mauss
„Ich habe Marcel Mauss sehr gemocht, gerade weil er von den anderen sprach, von denen, die man nicht kennt, die kein ‚Gesicht‘ zu haben scheinen.“
Interview in Libération
Moral
„Wissen Sie, ich habe bei meinem Großvater, der reich war, von Tellern gegessen, auf denen Bilder der Kolonialisierung waren, Teller, auf denen das Porträt von Marschall Bugeaud lag. Vielleicht beginnt sie hier, die Moral.“
Interview in Libération
Name
„Oft sagen sie in Fernsehsendungen: ‚Ah! Man müsste die Dinge trotzdem beim Namen nennen!‘ Aber die Dinge haben keine Namen. Und wenn man sie ruft, kommen sie nicht. Kurzum, es ist sehr schwierig, über die Dinge zu sprechen, über die Sache selbst zu sprechen. Manchmal gelingt es bei einigen Wissenschaftlern und Philosophen, aber das ist selten.“
Interview für SoFilm
Nietzsche
„Alles geschieht [...] von nun an so, als ob Nietzsches berühmter Satz: ‚Wir haben die Kunst, damit wie nicht an der Wahrheit zugrunde gehen‘, alles geschieht so, als ob dies der falscheste Satz der Welt wäre.“
Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard
Philosophie
„Blanchot schrieb Folgendes: ‚Die Philosophie wäre unsere Begleiterin, Tag und Nacht, selbst wenn sie ihren Namen verliert, selbst wenn sie abwesend ist, eine heimliche Freundin ...‘. Voilà, die Philosophie ist eine Freundin und der Roman ein Freund.“
Interview in Libération
Prostitution
„In der modernen Industriegesellschaft ist die Prostitution der Normalzustand.“
Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß
Reden
„Ich glaube, man kann nur dann gut reden, wenn man eine Zeit lang auf das Leben verzichtet hat. Das ist der Preis.“
Die Geschichte der Nana S.
Sartre
„Meiner Meinung nach macht Sartre, indem er seine sozialen Existenzbedingungen ausblendet, seinen Job als revolutionärer Intellektueller nicht revolutionär. Der Prolet braucht nicht nur Sartre, der mit all seiner überzeugenden Intelligenz die Houillères de France angreift, sondern er muss auch wissen, warum Sartre so und so über Flaubert schreibt. Warum verbringt ein Typ zehn Stunden seines Tages damit, über Flaubert zu schreiben, und drei gegen die Houillères, während er die gleiche Zeit ausschließlich am Fließband verbringt. Er wird nicht unbedingt gegen diese Tatsache sein, aber er muss es verstehen.“
Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard
Schauspieler
„Es kam mir immer seltsam vor, dass Leute Schauspieler werden wollten. Man ist im Leben schon genug Schauspieler, um nicht noch mehr Schauspieler zu sein.“
Interview für SoFilm
Schweiz
„Gramscis Asche ist ein Gedicht von Pasolini, das von bescheidener Korruption spricht. Für mich ist die Schweiz genau das: die bescheidene Korruption.“
Suizid
„Da war die ganze Aufregung der Nachkriegszeit, der Existenzialismus, Sartre vor allem, und Camus, von dem ich mein ganzes Leben lang einen Satz behalten habe, der mich erschüttert hatte: Der Selbstmord ist das einzige wirklich ernsthafte philosophische Problem.“
Interview in Libération
Wahrheit
„Entgegen der landläufigen Meinung sieht man, dass es keine schöne Inszenierung ohne ein schönes Drehbuch gibt. Platon sagte, dass Schönheit der Glanz der Wahrheit ist. [...] Jedes Bild ist schön, nicht weil es an sich schön ist [...], sondern weil es der Glanz der Wahrheit ist.“
Les bizarreries de la pudeur
Wort
„Die Inszenierung ist wie die moderne Philosophie, sagen wir Husserl, Merleau-Ponty. Es gibt nicht die Worte auf der einen Seite und das Denken auf der anderen. Das Denken und dann die Worte. [...] Wenn ich sage, dass die Inszenierung keine Sprache ist, meine ich, dass sie gleichzeitig ein Gedanke ist.“
Interview in L’Express
Zeit
„Das Kino ist nicht vor der Zeit geschützt. Es ist der Schutz vor der Zeit.“
Geschichte(n) des Kinos
Zitate
„Ich habe Ihnen noch nicht meine fünf Sätze gesagt [...], die mir im Gedächtnis bleiben und die ich abends manchmal wiederhole, um zu sehen, ob ich mich noch an sie erinnere [...] Der erste ist ein Satz von Bernanos. [...] ‚Die Angst, sehen Sie, ist immerhin die Tochter Gottes, die in der Nacht zum Karfreitag erlöst wurde. Sie ist nicht schön anzusehen, mal kratzig, mal [verflucht], und doch täuschen Sie sich nicht, sie steht am Bett jeder Agonie, sie [hält Fürsprache] für den Menschen.‘ Das ist ein Satz, der sich durchaus auf das heutige, verängstigte Frankreich beziehen kann. Sogar CNews kann darüber berichten. Der zweite Satz stammt von Bergson. Er wurde mir von einem ehemaligen Regisseur geschickt, ich hatte ihn bereits zitiert, er hat ihn mir vorgetragen und dann habe ich Alain Badiou dazu gebracht, ihn im Film Socialisme zu sagen. Er lautet: ‚Der Geist borgt sich von der Materie die Wahrnehmungen, aus denen er seine Nahrung macht, und gibt sie ihr in Form von Bewegung zurück, der er seine Freiheit aufprägt.‘ Ich habe das Wort ‚Wahrnehmung‘ nie richtig verstanden, die Wahrnehmungen der Materie. Der dritte Satz, das ist ein Satz von Claude Lefort [...]: ‚Die modernen Demokratien prädisponieren, indem sie die Politik zu einem vom Denken getrennten Bereich machen, zum Totalitarismus.‘ [...] Danach gibt es einen vierten Satz, werde ich mich an den Namen des Autors erinnern? [...] Elias Canetti [...]: ‚Man ist nie traurig genug, um die Welt besser zu machen.‘ Und ich füge noch einen fünften hinzu, der ein Satz von Raymond Queneau ist, dessen Romane ich damals sehr mochte. Der Aphorismus lautet: ‚Alle Menschen denken, dass zwei und zwei vier ergeben, aber sie vergessen die Geschwindigkeit des Windes.‘“
Interview mit Mediapart •
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