Jean-Luc Mélenchon: „Die neue Linke darf den Menschen nicht vorschreiben, was sie mit ihrer freien Zeit tun sollen!”
Die französische Linke hat den Sinn für das Vergnügen verloren. Das behauptet der Philosoph Michaël Fœssel. Jean-Luc Mélenchon, der am 10. April als Präsidentschaftskandidat für die Partei La France insoumise antritt widerspricht energisch. Ein Streitgespräch.
Mitten im Wahlkampf für die französischen Präsidentschaftswahlen haben wir Jean-Luc Mélenchon, dem Kandidaten von La France insoumise, vorgeschlagen, mit dem Philosophen Michaël Fœssel in einen Dialog zu treten. Fœssel hat jüngst ein Buch über das Verhältnis der französischen Linken zu Lust und Vergnügen veröffentlicht („Le plaisir et la gauche“; Quartier Rouge, 2022) und richtet an Mélenchon die Frage, ob die Linke in ihrem Kampf für Gleichheit und gegen Ausbeutung, in ihrem Werben für eine Form von klimabewusster Askese und ihrer Kritik an geschlechter- oder rassespezifischen Privilegien vergessen habe, sich auf das unvorhersehbare und unmittelbare Vergnügen zu stützen. Was könnte letztlich Lust darauf machen, die Linke wieder ins Herz zu schließen?
Michaël Fœssel: Ich möchte aus dem Vergnügen kein politisches Programm machen, sondern eher die Ursachen für die Abkehr der Wähler*innen von der Linken und, in einem weiteren Sinn, von der Politik überhaupt untersuchen. Die Motive für diesen Liebesentzug sind zunächst historisch. Sie entspringen dem Scheitern von Kommunismus und Sozialdemokratie. Es kommt mir allerdings so vor, als gäbe es eine affektive Spielart dieser Entzweiung zwischen den Parteien der Linken und ihrer Wählerschaft. Die Linke stellt – aus verständlichen Gründen – das Leiden in den Vordergrund, das Anprangern der ökonomischen Ungerechtigkeit, die Ablehnung der Herrschaftsformen. Das Vergnügen wird hingegen oft als suspekt angesehen, weil es wie ein fauler Kompromiss mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung erscheint. Für zahlreiche kritische Geister hat das Vergnügen einen schlechten Ruf. In letzter Zeit haben sich in einer Welt, die wegen der Klimakrise vor dem Zusammenbruch steht, Genügsamkeit und Mäßigung als Imperative des Überlebens durchgesetzt. Allerdings wird diese ökologische Besorgtheit vor allem bei den unteren Schichten der Bevölkerung auch als Bestrafung oder Aufruf zur Askese erlebt. Wenn die Ökologie eine Förderung des Lebendigen ist, müssen wir uns fragen, auf welcher Ebene sie die Aufwertung des Vergnügens impliziert. Das Lebendige ist nicht nur eine Norm. Es kann in der Freude noch an Intensität gewinnen. Ausgehend von einer Kritik der Konsumgesellschaft hängt die Linke ebenfalls sehr oft der Idee an, dass der Kapitalismus sich so weit verallgemeinert und so sehr die Körper vereinnahmt habe, dass unsere Empfindungen jubelnder Freude, unsere Momente glücklicher geschwisterlicher Verbundenheit und selbst unsere gewöhnlichsten Vergnügen verdächtig wären. Wie könnte man auch in einer so ungerechten Welt Freude genießen? Mir kommt es nun so vor, als ob es durchaus eine emanzipatorische Dimension des Vergnügens gäbe, insbesondere, wenn dieses Vergnügen nicht individualistisch ist, sondern geteilt wird. Etwas in dieser Art ist bei der Bewegung der „Gelbwesten“ passiert. Diese haben sich an Plätzen versammelt, die sie umgaben, Orten der gewöhnlichen sozialen Tristesse, der Verdrossenheit: Kreisverkehre, Autobahn-Mautstellen ... Sie haben diese Orte vereinnahmt, um sie zu verfremden und aus ihnen Orte ausgelassener Freude und glücklicher Geselligkeit zu machen. Sie haben sie verwandelt in Orte der Agora, an denen man sich politisch ausdrückt, und zugleich in Partyzonen, in denen Grillfeste organisiert werden. Das hat mir einen Text von Simone Weil zu den Streiks von 1936 in Erinnerung gerufen. Sie erzählt, dass direkt am Ort des Leidens und der Mühsal der Arbeiter, in den besetzten Fabriken, plötzlich eine „reine Freude“ aufgekommen sei. Die Philosophin hat darin einen Sieg gesehen, noch bevor die Gehaltsforderungen erfüllt worden wären. Das Vergnügen nimmt man sich da, wo man es findet, selbst im Bereich eines bedrückenden gesellschaftlichen Systems, dessen Parameter man gerade ändert. Das hat in mir die Idee geweckt, das politische Engagement nicht nur anhand von Programmen in den Blick zu nehmen, sondern auch anhand der positiven affektiven Energien, die es motivieren.
Jean-Luc Mélenchon: Für mich ist die Linke nicht zusammengebrochen, weil sie das Vergnügen vernachlässigt hätte, sondern weil sie das Volk aufgegeben hat. Die Ursache der Entzweiung zwischen der Linken und dem Volk liegt vollständig im Inhalt des politischen Programms der Linken. Sie hat aufgehört, die Forderungen der unteren Schichten der Bevölkerung und der Arbeitswelt zu repräsentieren. Sie hat sich den Imperativen des herrschenden Kapitalismus angepasst. Und die Sozialdemokratie hat das ganz aus freien Stücken getan! Sie dachte, wenn es dem System gut ginge, dann würde sie in ihm Verbesserungen verwirklichen. Keine Rede mehr davon, es umzustürzen oder es überwinden zu wollen. Dieses „reformerische“ Modell (mit dicken Anführungszeichen) stand seit jeher außerhalb der Tradition der französischen Linken. Diese entsteht 1789. Ihre ursprünglich revolutionäre inhaltliche Ausrichtung markiert überdeutlich ihre gesamte Geschichte. Léon Blum ist die Bestätigung dafür. Und vergessen wir nicht, dass die Parti Socialiste der 1970er Jahre sich als antikapitalistisch bezeichnete und auf Karl Marx berief. Nichtsdestotrotz hat die französische Sozialdemokratie mit ihrer Geschichte gebrochen, indem sie sich auf den Finanzkapitalismus und die Politik von Angebot und Nachfrage eingelassen hat. Sie ist daran gestorben. Was den Staatskommunismus betrifft, so ist er zusammengebrochen, ohne dass ihre Erben imstande wären, eine neue Idee des Kollektivismus zu formulieren. Diese überholten Programme müssen ersetzt werden. L'avenir en commun [„Gemeinsame Zukunft“], mein Programm für die Präsidentschaftswahlen, ist ein Programm des Übergangs. Es unterbreitet den Vorschlag für einen Übergang von einer Gesellschaft des Finanzkapitalismus zu einer Gesellschaft der Harmonie zwischen Mensch und Natur. Doch kommen wir auf Ihr Buch zurück. Es trifft viele wunde Punkte. Es schaut wie mit dem Vergrößerungsglas auf das, was die traditionelle Linke verdrängt und verleugnet. Das tut sie sicherlich nicht bewusst, doch es funktioniert wie eine unveränderliche Größe in den letzten Zeiten. Es sieht ganz so aus, als ob diese Linke durch den Kapitalismus über die Frage des Vergnügens hinterrücks überrumpelt worden wäre. Dabei war der Feind von Vergnügen und Unvernunft anfangs ja der Kapitalismus! Er sagte den Leuten, an ihrem zugewiesenen Platz zu bleiben, er dressierte die Körper, um sie stundenlang in schmerzhaften Haltungen arbeiten zu lassen, ohne irgendeine Belohnung für ihr Tun. Es liegt ja nun keinerlei Vergnügen darin, mechanisch immer die gleiche Geste auszuführen oder sich die ganze Zeit wehzutun. Der Sozialismus dahingegen verstand sich als Befreier. Er versprach Emanzipation und das Vergnügen, über sich selbst zu verfügen, insbesondere dank der Kultur.
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