Raphaël Enthoven: „Es gibt keine Opposition in Frankreich, sondern nur Oppositionelle“
Dass Emmanuel Macron und Marine Le Pen in die zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahlen eingezogen sind, besiegelt für Raphaël Enthoven das Ende des Rechts-Links-Paradigmas. Mit gravierenden Folgen, wie der Philosoph im Interview erläutert.
Was denken Sie über die Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen und besonders über die Reaktionen der Verlierer?
Eines der erbärmlichsten Elemente des ersten Wahlgangs ist, dass die Verlierer den Wählern, die nicht für sie gestimmt haben, erklären, dass ihnen die Wahl gestohlen wurde. Demokratisch zu sein, würde bedeuten, zunächst einmal zuzugeben, dass die Franzosen dieses Duell zwischen Marine Le Pen und Emmanuel Macron gewollt haben. Zumal es in Wirklichkeit nichts Zufälliges an diesem Ergebnis gibt, das in allen Punkten das Ergebnis von 2017 bestätigt. Es ist das Ende des Rechts-Links-Paradigmas – im Keim vorhanden seit dem Referendum über den Vertrag von Maastricht 1992, bei dem zum ersten Mal der identitätsstiftende Souveränismus gegen den pro-europäischen Liberalismus antrat. 2017 war Macrons Sieg vor dem Hintergrund eines Aufrufs zur Überwindung der Links-Rechts-Spaltung erfolgt. Doch die politischen Apparate hatten diese Veränderung nicht wahrgenommen. Sie machten weiterhin Vorschläge, mal von links, mal von rechts, die oftmals von der amtierenden Regierung je nach Relevanz vorweggenommen wurden. Das Ergebnis: Eine Opposition, die dieser neuen politischen Realität gewachsen ist, hat sich nicht herausgebildet. Es gibt keine Opposition in diesem Land, sondern nur Oppositionelle, die in großer Zahl vorhanden sind und nicht in der Lage scheinen zu koalieren oder sich zu einigen. Es gibt niemanden, der der Unzufriedenheit einen ernsthaften politischen Ausdruck verleihen könnte. Somit ist die einzige Alternative, die sich den Wählern bietet, die der Kontinuität oder des Chaos.
Mélenchon hat mit fast 22 % der Stimmen den zweiten Wahlgang nur um ca. 420 000 Stimmen verpasst. Zeigt das nicht eine echte linke Alternative?
„Links“ ist diese „Alternative“ sicher nicht. Die Linke mag weder Islamisten noch Tyrannen noch Wutbürgern. Mélenchon ist nicht links, sondern populistisch. Das ist etwas ganz anderes. Seinen „Erfolg“ verdankt Mélenchon nur einem nützlichen Wahlreflex bei einem Teil (und nur einem Teil) der Linken, und in der zweiten Runde wäre seine Niederlage überwältigend ausgefallen. Inhaltlich unterscheidet sich die Alternative, die er verkörpert, nicht wesentlich von dem, was Marine Le Pen vorschlägt. In Bezug auf Themen wie die NATO, Ukraine, Wladimir Putin, Europa, die politische Oligarchie und die „Mediokratie/Medienherrschaft“ hat er eine große Affinität zu Marine Le Pen – während er sich gleichzeitig als Bollwerk gegen die extreme Rechte darstellt. Dies erklärt auch, warum er sich auf einem niedrigen Niveau bewegt und keine Alternative darstellen kann. Meiner Meinung nach ist das gute Ergebnis von Mélenchon bei dieser Wahl nicht der Beginn eines neuen politischen Abenteuers, sondern der Höhepunkt der Bemühungen eines Mannes, der es geschickt versteht, die vielfältigen und widersprüchlichen Interessen einer sterbenden Linken, von Gelbwesten, Souveränisten, radikalen Aktivisten, Islamisten, die nach einer Marionette suchen, identitären Antirassisten, Sozialisten, die nach Posten suchen, usw. unter seinem Banner zu vereinen. Hinter dem Talent des Redners verbirgt sich das Fehlen einer echten Vision. Er präsentiert sich heute wie Sisyphos, der den Felsen immer wieder hinaufgerollt hat. Das bedeutet nur, dass er Verantwortung abgibt. „Macht es besser!“, sagt er im Modus der Herausforderung zu seinen Anhängern. Das wird nicht schwer sein. Denn wenn er geht, hinterlässt er ein widersprüchliches Erbe zwischen den Souveränisten, den Kommunitaristen und den wenigen Republikanern, die in La France insoumise übrig geblieben sind. An dem Tag, an dem der starke Mann nicht mehr da ist, um dieses Sammelsurium zu frisieren, wird es Krieg zwischen all diesen Lagern geben. Wenn Sie bei den Insoumis Tito herausnehmen, haben Sie das ehemalige Jugoslawien.
Was halten Sie von seiner Haltung für die zweite Runde, die Aktivisten von La France insoumise nach ihren Wahlwünschen zu fragen und zu fordern, keine Stimme an Marine Le Pen zu geben?
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