Edition: Impulse für 2026
Sonderausgabe 35 - 2025/26Ein Blick auf die Weltlage zeigt, dass wir in einem Interregnum leben – einer Zeit ohne feste Ordnung und ohne klaren Herrscher, einer Zeit, in der das Alte vergeht und das Neue noch nicht da ist, wie der italienische Philosoph Antonio Gramsci solche chaotischen Übergänge der Weltgeschichte einmal charakterisiert hat. Der alte König namens Neoliberalismus – manche nannten ihn Spätliberalismus – trat in den 2010er-Jahren ab. Sein Regierungsprogramm, bestehend aus Individualismus, freien Märkten, offenen Grenzen und Fortschrittsglauben, gilt nicht mehr. Weltweit tobt ein Kampf um die Nachfolge. Große Hoffnungen macht sich das rechte Lager, das mächtige Verbündete in Russland und China hat, aber auch im Westen. Die Linke rechnet sich ebenfalls Chancen aus. Und der Liberalismus hofft, seine Dynastie noch einmal fortsetzen zu können.
Sie alle haben unterschiedliche Vorstellungen von der Gestaltung der Welt, von der Rolle der Technologie in unserem Leben, vom Umgang mit der Natur, von Krieg und Frieden, Radikalität und Sanftheit, Freiheit und Notwendigkeit, Offenheit und Grenzziehung, Ich und Wir. Die nächsten Jahre werden zeigen, welche Allianz am geschicktesten agiert, welcher Ideenmix sich durchsetzt und aus welchem Haus der neue König kommt.
Die Texte in diesem Heft sind Beiträge zum Verständnis des Interregnums. Sie versuchen, sich einen Reim auf die verwirrende Zeit zu machen. Sie unterbreiten Deutungs- und Handlungsvorschläge. Sie sind zeitdiagnostisch induzierte Philosophie. Deren Beitrag besteht möglicherweise darin, die Ideen hinter den Machtkämpfen zu entschlüsseln, damit wir wissen, worauf wir uns einlassen, wenn wir die eine oder andere Position vertreten, diese oder jene Partei unterstützen. Mit diesem Wissen kann es vielleicht sogar gelingen, den turbulenten Übergang von der alten zur neuen Ordnung in vernünftige Bahnen zu lenken.
Mit Texten von: Omri Boehm, Cora Diamond, Nikita Dhawan, Chantalle El Helou, Maja Göpel, Jürgen Habermas, Martin Krohs, Evgeny Morozov, Alan Posener, Rupert Read, Mirjam Schaub, Theresa Schouwink, Clemens J. Setz, Peter Sloterdijk, Thomas Wagner, Thomas Chatterton Williams, Curtis Yarvin und Lea Ypi.
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Alle Texte in der Übersicht
1. Die Ordnung der Welt
„Jahrhunderte voller Langeweile“? – Das Fukuyama-Missverständnis
„Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein“, schrieb Francis Fukuyama 1989 und sagte sogar „Jahrhunderte voller Langeweile“ voraus. Eine Fehlprognose? Keineswegs. Der Politologe wurde missverstanden – was nicht nur die Rückkehr der Kriege zeigt.
Für Europa
Zu Donald Trump, dem geopolitischen Umbruch und der Übertölpelung unseres Kontinents. Zugleich eine Warnung vor der Rhetorik der Verfeindung und ein Plädoyer für die Freundschaft mit unseren Nachbarn.
Der Staat hat’s gegeben, der Staat hat’s genommen
In der aktuellen Wehrpflichtdebatte zeigt sich das Wesen des Staates. Er verlangt die Bereitschaft, für ihn zu sterben. Radikale Gesellschaftskritik ist der erste Schritt, um sich aus dieser tödlichen Umklammerung zu befreien.
Klasse statt Identität
Migration wird oft als Identitätsproblem behandelt, als kulturelle Bedrohung unserer Gemeinschaft. In Wahrheit ist sie jedoch ein Symptom des Kapitalismus, der unser eigentliches Problem ist. Dagegen hilft nur: Aufklärung.
Thomas Chatterton Williams: „Ein Klima, in dem viele lieber schwiegen. Das machte Woke so wirksam“
Woke ist vorbei – aber woher kommt die neue rechte Härte? Der Autor Thomas Chatterton Williams sagt: Was 2020 schieflief, verfolgt uns bis heute.
2. Die Frage nach der Technik
Nun, da das Wünschen wieder hilft
ChatGPT verändert unser Verhältnis zur Schriftkultur. Doch was wäre eigentlich, wenn KI-Systeme den lästigen Schriftverkehr übernehmen – und der Mensch zum souveränen Analphabeten wird?
Leben wir im Technofeudalismus?
Big Tech ist das neue Feindbild der Linken. Sie vergleichen die Geschäftspraktiken von Amazon, xAI und Co. neuerdings mit dem Lehnswesen aus dem Mittelalter. So hätten immaterielle Vermögenswerte wie Daten und Algorithmen eine neue Form von Feudalrente hervorgebracht. Doch stimmt diese Analyse?
Curtis Yarvin: „In meinem Dream-Team würde Trump die Punchlines loslassen, während ein anderer die Regierungsgeschäfte führt“
Der Informatiker, Politiktheoretiker und Vance-Vordenker Curtis Yarvin ist Amerikas bekanntester Monarchist. Im Interview spricht er über die kommunistischen Staaten von Amerika, Friedrich den Großen als Vorbild und seinen Plan für Gaza.
Wie Science-Fiction zur Philosophie wurde
Der Philosoph Gotthard Günther und der Soziologe Arnold Gehlen analysierten das Verhältnis von Mensch und Maschine – und sahen in alltäglicher Technik die Vorboten künstlicher Intelligenz.
3. Naturverhältnis
Und warum essen wir keine Menschen?
Tiere behandeln wir oft wie Rohstoffe. Dabei sind sie unsere Mitgeschöpfe. Ein Gespräch mit der Philosophin Cora Diamond über den großen Unterschied zwischen uns und den anderen.
Willkommen im Chaoszän
Die Klimakrise ist da. Um in dieser gefährlichen und labilen Zeit gut weiterleben zu können, müssen wir resiliente Gemeinschaften bilden.
Maja Göpel: „Es ist nur kurzfristig rational, das Maximale an der Börse rauszuschlagen“
Wachstum um jeden Preis funktioniert nicht mehr, sagt die Transformationsforscherin Maja Göpel. Im Interview spricht sie über Wohlstand für alle, Shoppen und Klimaschutz.
Krank vor Angst?
Wie lässt sich eine rationale Befürchtung von einer irrationalen unterscheiden? Am Beispiel der Krankheitsangst zeigt sich, wie heikel die Abgrenzung ist. Denn Vernunft und Unvernunft gehen ineinander über: Aus Überlebenswillen kann Lebensfeindlichkeit, aus Erkenntnisdrang Zweifelsucht und aus Vorsichtsmaßnahmen magisches Denken werden.
4. Denken und Leben
Peter Sloterdijk: „Man muss inmitten des Unlebbaren Inseln der Lebbarkeit schaffen“
Wie hält man es im Unendlichen aus? Und wie meistert man die schwindende Zeit? Wir haben mit Peter Sloterdijk über die Grundzüge seines Denkens gesprochen: über Monster der Erkenntnis, die Poesie des Denkens und sein Leben als Schatzsammler.
Das Ohr als Denkorgan
Unsere Gesellschaft ist auf das Auge fixiert. Was wäre, wenn wir stattdessen mit dem Ohr wahrnehmen und denken? Wäre die Welt dann vielleicht eine andere, bessere? Ein Plädoyer für einen umfassenden acoustic turn.
Nikita Dhawan: „Wir sollten versuchen, bessere Kantianer zu sein als Kant“
Europa rühmt sich der Aufklärung, hat deren Ideale jedoch durch den Kolonialismus verraten. In ihrem neuen Buch zeigt die Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan Wege auf, wie sich das aufklärerische Erbe von seinen vergifteten Anteilen befreien und für den Kampf gegen Unterdrückung einsetzen lässt.
Das Gegenteil des Vergessens
Warum das Gedenken die Bedingung der Möglichkeit einer Zukunft ist: Zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald sollte der Philosoph Omri Boehm eine Rede über die Kraft des Erinnerns halten. Doch die Gedenkstätte lud ihn wieder aus, nachdem die israelische Botschaft in Berlin Protest eingelegt hatte. Sie befürchtete eine Vereinnahmung der Opfer für politische Zwecke.
Manifest über Radikalität
Radikalität gilt als anstößig und beschämend, überzogen und fehlgeleitet. Aber philosophisch besitzt sie einen unleugbaren Reiz: Sie tritt an, um die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen.