Das Gegenteil des Vergessens
Warum das Gedenken die Bedingung der Möglichkeit einer Zukunft ist: Zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald sollte der Philosoph Omri Boehm eine Rede über die Kraft des Erinnerns halten. Doch die Gedenkstätte lud ihn wieder aus, nachdem die israelische Botschaft in Berlin Protest eingelegt hatte. Sie befürchtete eine Vereinnahmung der Opfer für politische Zwecke.
Die folgende Rede sollte der israelische Philosoph Omri Boehm am 6. April 2025 bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald halten. Auf Druck der israelischen Botschaft in Berlin zog die Gedenkstätte ihre Einladung jedoch kurz davor zurück. Der Leiter der Gedenkstätte, Jens-Christian Wagner, teilte mit, Boehms Einladung nur zurückgenommen zu haben, weil „die vielfach seelisch verletzten Überlebenden drohten, instrumentalisiert und noch weiter in diesen Konflikt hineingezogen zu werden“. Der Auftritt des Philosophen, selbst Enkel von Holocaust-Überlebenden, sei nur verschoben. Omri Boehm betonte, dass die Stellungnahme Wagners auch seiner Position entspreche.
Der jüdisch-amerikanische Historiker Yosef Hayim Yerushalmi war einer der besten Kenner der Geschichte des jüdischen Gedächtnisses. Sein klassisches Werk Zakhor, das 1988 auf Deutsch unter dem Titel Zachor: Erinnere dich! erschien, endet mit einer Frage: „Was wäre, wenn das Gegenteil des Vergessens nicht das Erinnern ist, sondern die Gerechtigkeit?“ Yerushalmi selbst hat die Frage bis zu seinem Tod im Jahr 2009 nie beantwortet und sich auch nicht die Mühe gemacht zu erklären, was er mit ihr sagen wollte. Aber sie ist ein guter Ausgangspunkt, um über die Bedeutung und die Macht des Gedenkens nachzudenken in einer Zeit, in der dieses Gedenken vor neuen, unerträglichen Herausforderungen steht.
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