Jens Balzer: „Die 80er sind uns in vielen Dingen sehr nahe“
In den 80er Jahren wurzeln viele Diskurse unserer Gegenwart. Jens Balzer, der dem Jahrzehnt in seinem neuen Buch nachspürt, spricht im Interview über die untergründige Verbindung von Helmut Kohl und Michel Foucault, die Dialektik der Individualisierung und die progressive Kraft der Schwarzwaldklinik.
Herr Balzer, in Ihrem Buch High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt schreiben Sie an einer Stelle, dass Helmut Kohl und Michel Foucault „unter einer Decke steckten“. Wie das denn?
Die Verbindung zwischen Kohl und Foucault besteht zunächst darin, dass sich beide auf ihre Weise mit Fragen der Identität und Subjektivität beschäftigten und je eine „geistig-moralische Wende“ forderten. Kohl wollte diese in dem Sinne, dass das Erbe der 68'er getilgt wird und es eine Rückkehr zur heteronormativen Kleinfamilie und patriarchalen Verhältnissen gibt. Foucault wollte das genaue Gegenteil. In einer Übersteigerung des Erbes von 68 sollte man sich von allem Identischen verabschieden und vielmehr das reine Werden als existentielles Ziel begreifen. Das scheint auf den ersten Blick ein diametraler Gegensatz. Jedoch stellt Kohl gleichzeitig den individualistischen Teil des Erbes von 68 ins Zentrum seiner Wirtschaftspolitik. Er appelliert an die Leistungsbereitschaft und ans „lebenslange Lernen“. Und das ist letztlich nicht sonderlich weit weg von Foucault, weil darin die Aufforderung steckt, sich immer wieder neu zu erfinden und sich nicht auf einer bestimmten Subjektivität auszuruhen. Der neoliberale Umbau, der von Kohl – sowie Reagan und Thatcher – in den 80er Jahren betrieben wurde, machte indes zunehmend klar, dass in der Chance der individuellen Neuerfindung ebenso ein Zwang stecken kann. Und deshalb begannen manche Linke bereits, sich wieder nach stabilen Identitäten zu sehnen – darin klingt also schon an, was wir heute Identitätspolitik nennen. Und in dem Paar Kohl-Foucault zeichnet sich eine Problemkonstellation ab, durch die die politischen Lager durcheinander geraten und eine, wie Habermas das seiner Zeit nannte, „neue Unübersichtlichkeit“ entsteht.
In der Popkultur der 80er Jahre wird indes zunehmend eine neue identitätspolitische Unübersichtlichkeit performt. Künstler wie Prince oder Grace Jones verwischen in ihren Auftritten beispielsweise bewusst die Geschlechtergrenzen.
Ja, das unterscheidet die 80er auch von den 70ern. In letzteren gab es natürlich schon Glam-Künstler wie David Bowie, die viele Menschen zu ihrem Coming-Out ermutigt haben. Wechselte Bowie jedoch noch zwischen den verschiedenen Rollen, ist bei Prince die gesamte Performance sexualisiert und ambivalent. Zudem entstehen in den 80ern homosexuelle Empowerment-Hymnen wie Smalltown Boy von Bronski Beat, in denen es nicht mehr „nur“ um ästhetische Ambivalenz geht, sondern ganz konkret um das Schicksal eines jungen Schwulen, der von seinen Mitschülern verprügelt und von dem Vater aus dem Haus geworfen wird. Und schließlich ist auch eklatant, wie viel SM-Ästhetik es Anfang der 80er gab, man denke etwa an Frankie Goes To Hollywood oder Depeche Mode. Diese sado-masochistische Verbindung von Sexualität und Macht, mit der sich ja auch Foucault in seiner Spätphase beschäftigte, erscheint als Utopie, weil der Sado-Masochismus verdeutlicht, dass sich Machtverhältnisse lustvoll umkehren lassen, was wiederum politische Implikationen mit sich bringt.
Im Kontrast zu dieser lustvollen Inszenierung von Sexualität waren die 80er Jahre gleichzeitig aber auch von einem hohen Maß gesellschaftlicher Angst geprägt. Angst vor Krieg, Atomkatastrophen, Ozonloch, Dioxin, Arbeitslosigkeit, Aids oder der Volkszählung.
Blickt man aus der Rückschau auf die 80er, scheint es zunächst so, dass sie als Jahrzehnt der Angst begannen und diese dann zunehmend verfliegt. Die großen Proteste gegen Atomkraft oder die Nachrüstung, etwa die Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981, zu der 300 000 Menschen kamen, fanden eher Anfang des Jahrzehnts statt. In Westdeutschland wurde diese Angst zudem durch die Furcht vor Arbeitslosigkeit verstärkt, da sich zu jener Zeit die klassischen proletarischen Milieus aufzulösen begannen, allen voran durch die Schließung vieler Zechen. Das, was man heute eher mit den 80ern verbindet, das Neonbunte und Schrille, setzt sich vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts durch, in der dann auch viele neue Jobs in den neuen Dienstleistungssektoren entstehen. Gleichwohl macht sich die zunehmende Geschwindigkeits- und Energiesteigerung auch schon zu Anfang der 80er bemerkbar. Das zeigt sich nicht nur daran, dass der Philosoph Paul Virilio zu jener Zeit mit seiner „Dromologie“ das Verhältnis von Gesellschaft und Geschwindigkeit zu untersuchen beginnt, sondern auch daran, dass Hi-NRG (High Energy), das musikalische Genre, das sich in den Schwulenclubs von San Francisco aus dem Disco-Sound entwickelt, mit seinen energetischen Rhythmen die elektronische Popmusik zu prägen beginnt. Gleichzeitig gehört Patrick Cowley, der HiNRG maßgeblich mitentwickelte, 1982 zu einen der ersten AIDS-Toten. Das verdeutlicht die Dialektik dieses Jahrzehnts.
Auf die angstauslösenden Bedrohungen der Zeit – Aufrüstung, Atomkraft, Aids – gab es ganz unterschiedliche Reaktionen. Im Kontrast zur linken Politisierung, wie sie sich in der Entstehung der Grünen zeigt, entwickelte die Punk-Bewegung eher einen nihilistischen Anarchismus, während sich andere wiederum nach einer Oberflächenstabilität sehnten. So erwähnen Sie im Buch, dass 1983 rund 40 Prozent der Erstwähler die Christdemokraten wählten.
Ja, das vergisst man heute leicht. Trotz der gewaltigen Bilder von den Protestmärschen im Bonner Hofgarten oder in Brokdorf bekamen Die Grünen bei der Wahl 1983 gerade einmal 5,6 Prozent der Stimmen, 1987 dann 8,7 Prozent. Die Union punktete hingegen auch bei Erstwählern massiv - das heißt, die Jugendkultur, die am tiefsten in der Gesellschaft wurzelte, das waren weder die Punks noch die Ökos, sondern vielmehr die Popper. Wobei man fairerweise sagen muss, dass es in CDU und CSU zwar äußerst rechtskonservative Kräfte gab, Alfred Dregger, Peter Gauweiler oder den jungen Horst Seehofer, aber eben auch vergleichsweise fortschrittliche Leute wie Rita Süssmuth, Norbert Blüm oder Heiner Geißler. Letzterer machte mit einem bizarren Auschwitz-Vergleich von sich reden, war in Fragen der Migrationspolitik aber viel progressiver als die frühen Grünen, die das Thema praktisch nicht interessierte. Die SPD unter Helmut Schmidt hatte für die damals noch sogenannten Gastarbeiter auch nicht sonderlich viel übrig. Der Beginn der Multikulturalismus-Debatte Anfang der 80er war dementsprechend der Evangelischen Kirche, dem sozialen Flügel der CDU und Alfred Biolek zu verdanken.
Zumal Sie auch beschreiben, dass sich der Werte- und Zeitenwandel nicht nur in der Politik, sondern subkutan auch in den konservativ anmutenden Teilen der Populärkultur vollzog – etwa in der Schwarzwaldklinik.
Wenn wir vorhin mit Blick auf Foucault über das Aufbrechen von Identitäten sprachen, so kann man an Serien wie der Schwarzwaldklinik beobachten, wie die Entnormalisierung von Identitäts- und Lebensentwürfen, das Nicht-mehr-selbstverständlich-sein von bestimmten biografischen Mustern in den 80er Jahren aus den Zirkeln der sozialen Avantgarden in die Mitte der Gesellschaft gelangt. In der Schwarzwaldklinik oder in der Serie Ich heirate eine Familie wird etwa mit großer Selbstverständlichkeit verhandelt, dass Ehen nicht mehr ein Leben lang halten müssen und man auch mit einem neuem Partner oder Partnerin glücklich werden kann. Gesellschaftlich war das zu jener Zeit hingegen noch keineswegs selbstverständlich. Natürlich ist Professor Brinkmann gleichzeitig noch der patriarchale Halbgott in Weiß, aber was in der Serie um ihn herum passiert, ist eben hochinteressant.
Sie beschreiben für die 80er eine Dialektik, die uns heute noch sehr gegenwärtig erscheint. Einerseits vollzieht sich eine enorme Technisierung und damit tendenzielle Entkörperlichung des Lebens, indem Heimcomputer, die ersten Handys, Spielekonsolen, der Walkman, Mikrowellen und Videorekorder in den Alltag einziehen. Andererseits entsteht aber auch eine Welle des Körperkults, Fitness und Bodybuilding werden zu Massenphänomenen.
In beiden Fällen geht es um Individualisierung. Bei technischen Innovationen wie dem Mobiltelefon, das man prominent in Miami Vice und Dallas sieht, befindet man sich zwar auf der Straße, ist gleichzeitig aber auch an einem anderen Ort. Man gehört einem Raum-Zeit-Kontinuum an, das alle anderen nicht gleichermaßen wahrnehmen können, das man also exklusiv für sich hat, ein Symbol der Zugehörigkeit zu einer Elite, der Individualisierung. Ähnliches gilt für den Walkman, durch den man im öffentlichen Raum über seinen individuellen Soundtrack verfügt. Ein vergleichbare Logik zeigt sich sodann im Fitness-Trend. Der Wille zur individuellen Körpergestaltung setzt beim Wunsch nach einer Verlängerung der Jugend an, man will Herr oder Herrin über die eigene Biologie werden. Und das ist natürlich ebenfalls eine Form der Selbsterfindung oder – mit Foucault gesprochen – der „Ästhetik der Existenz“. Wobei sich hier ebenfalls wieder eine Dialektik einstellt, weil auch diese Form der Selbsterfindung zum Zwang werden kann, was sich schon daran zeigt, dass entsprechende Begrifflichkeiten schnell in die Management-Theorie eingehen. Nun sollen auch Unternehmen „fit“ und der Staat „schlank“ gemacht werden.
Zu dieser Zeit entstehen auch die „Yuppies“, die „young urban professionals“. Mit ihnen scheint im größeren Maßstab erstmals jenes Phänomen aufzutreten, das die Philosophin Nancy Fraser später „progressiven Neoliberalismus“ nennt. Demnach habe der alte autoritäre Kapitalismus so nicht mehr weiter funktionieren können, weshalb er sich nach außen einen fortschrittlichen Anstrich gab. Folglich entstehen mit den Yuppies erstmals Milieus, die in gesellschaftspolitischen Fragen überaus progressiv sind, also für sexuelle Diversität und gegen Militäreinsätze votieren, sich in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen hingegen für maximale Deregulierung einsetzen.
Dass der autoritäre Kapitalismus sich neu erfinden musste, hat indes auch damit zu tun, dass ihm durch die Deindustrialisierung die Produktionsverhältnisse abhanden kamen. Kehrte sich in den 80ern das Verhältnis von sekundärem und tertiärem Sektor um, setzte eine Erosion der proletarischen und sozialdemokratischen Milieus ein, womit ja auch ein schleichender Abstieg der SPD verbunden war. Und die Dienstleistungsgesellschaft, die dem sich weiter entwickelnden Kapitalismus nun die Grundlage gibt, bildet eigene Arten des Überbaus heraus, die wiederum mit dem in den 70ern entstandenen Wunsch nach Individualisierung ganz gut zusammenpassen. Insofern handelt es sich hier um verschiedene gesellschaftliche Prozesse, von denen anfangs nicht klar ist, wohin sie führen, die aber gegen Ende des Jahrzehnts zunehmend im Gleichtakt laufen. Und hier sieht man auch nochmal die eingangs erwähnte Dialektik. Wenn Kohl seine „geistig-moralische Wende“ propagierte, Leistungsbereitschaft und Anpassung an neue Umstände forderte, passiert genau das bei der nächsten Generation der Dienstleistungsgesellschaft – nur dass diese deswegen noch lange nicht zu den homogenen, patriarchalen Verhältnissen zurückkehrt, die Kohl in gesellschaftspolitischer Hinsicht vorschweben. Während umgekehrt, da haben Sie recht, die scheinbar progressive Leidenschaft der Yuppies für Diversität und Minderheiten-Empowerment nicht dazu führt, dass sie für eine ökonomisch gerechtere Gesellschaft streiten, im Gegenteil. Die Yuppies bilden in dieser Hinsicht die Blaupause für die heutige Woke-Linke.
Besieht man, wie viele gesellschaftspolitische Fäden aus der Zeit in die Gegenwart reichen und die 1986 vom Soziologen Ulrich Beck gestellte Diagnose der Risikogesellschaft erst heute ihre ganze Tragkraft zu entfalten scheint, stellt sich auch die Frage: Gab es in den 80ern demnach ein analytisch ausgeprägtes Sensorium für die zukünftigen Entwicklungen, die sich in den folgenden Jahrzehnten verstärken sollten?
Im Rückblick sieht man natürlich, wie seiner Zeit die Gender Studies ihren Anfang nahmen, man zu ahnen begann, welche Veränderungen die Digitalisierung mit sich bringen wird und dass es eine zunehmende Auflösung fester, kollektiver Identitäten gibt. Was aber zunächst kaum jemand geahnt hatte, war der Fall der Mauer und das einstweilige Ende der jahrzehntelangen Systemauseinandersetzung. Daraus ergab sich der interessante Widerspruch, dass die Zukunft einerseits total offen, andererseits aber auch zu Ende zu sein schien, man denke hier an Francis Fukuyamas berühmten Text vom „Ende der Geschichte“. Ebenso hat sich Jürgen Habermas‘ damalige Vorstellung als falsch erwiesen, man würde nun in eine Art postnationale Konstellation eintreten. Steffen Mau hat etwa in seinem jüngst erschienenen Buch Sortiermaschinen beschrieben, dass die Zahl befestigter Grenzen in den letzten drei Jahrzehnten extrem gestiegen ist. Und schließlich vollzog sich 1989 nicht nur der Mauerfall, sondern auch die Fatwa gegen Salman Rushdie. Zumindest für meine Generation war Religion weitestgehend aus dem Diskurs verschwunden, man konnte sich kaum vorstellen, dass man sich nochmal in dieser Weise mit Glaubenssystemen auseinandersetzen wird müssen. Wir studierten Gilles Deleuze’ Philosophie der Immanenz und dachten, durch derartige Metaphysikkritik wären wir die Religion los geworden. Welch ein Irrtum. Die 80er sind uns also in vielen Dingen sehr nahe, in manchen aber eben auch sehr fern. •
Jens Balzer, Jahrgang 1969, ist Autor und Journalist. Sein neues Buch „High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt“ ist kürzlich bei Rowohlt Berlin erschienen.
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