Helmuth Plessner und die Gemeinschaft
Scharfsinnig und stilistisch virtuos wendet sich Helmuth Plessner in seinem 1924 veröffentlichten Werk Grenzen der Gemeinschaft gegen den Wir-Kult, der damals die junge Demokratie der Weimarer Republik von rechter und linker Seite bedroht. In Ihrem Essay erläutert Marianna Lieder, warum Plessers Verteidigung von Takt, Diplomatie und Höflichkeit gegen sämtliche Form von Unmittelbarkeitsbestreben noch immer hochaktuell ist.
Da ihn die Arbeiten zu seinem Dissertationsthema über eine kleine Krebstierart namens Palämon nicht restlos in Anspruch nehmen, widmet er sich nebenher der Erforschung des Lichtsinns von Seesternen. Nein, nicht Leichtsinn – Plessner bemerkt den Druckfehler im Titel seines nach Abschluss der maritimen Feldforschung verfassten Seestern-Aufsatzes gerade noch rechtzeitig, bevor dieser in den Zoologischen Jahrbüchern erscheint –, sondern Lichtsinn! Um die elementare Fähigkeit der Seesterne, hell und dunkel zu unterscheiden, geht es hier, nicht etwa um deren Risikofreude oder mangelnde Ernsthaftigkeit.
Ein gutes Jahrzehnt später ist aus dem blutjungen Zoologen, der mit naturwissenschaftlichem Empiriehunger die Strände des Wilhelminischen Kaiserreichs absuchte, ein noch immer halbwegs junger Philosophiedozent im Reich der unbegrenzten intellektuellen Möglichkeiten der Weimarer Republik geworden. Mit ebenso durchdringendem Blick wie einst die Meerestiere betrachtet Plessner nun die Gattung Mensch. Und für Letztere, so der Erkenntnisstand des inzwischen 32-Jährigen, ist der Leichtsinn tatsächlich von fundamentaler Bedeutung. Ein Druckfehler liegt diesmal nicht vor.
„Jede Schicht unseres Wesens schreit nach Spiel und Gefahr“, schreibt Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft von 1924. Tief in unserem Inneren herrscht demnach ein Hang zum Nervenkitzel, eine Lust an der Konfrontation. Zugleich jedoch ist die Seele, oder wie auch immer man den vermeintlich letzten Grund des Psychischen nennen mag, unendlich verletzlich und verunsichert. Allein schon durch Gemütsregungen, die sich ungefiltert nach außen wagen, setzten wir uns dem Risiko der Lächerlichkeit aus. Diese explosive psychische Mischung aus Draufgängertum und Mimosenhaftigkeit kann laut Plessner nur dann eingehegt und abgefedert werden, wenn auch im Zwischenmenschlichen dem Leichtsinn in gewisser Weise Rechnung getragen wird, wenn das „Spiel über den Ernst“ triumphiert, wenn das „Ethos der Grazie und Leichtigkeit“ herrscht, wenn es nach der „Logik der Diplomatie“ und den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen der Höflichkeit zugeht, wenn man sich mit Takt und Taktik begegnet.
Gefährliche Nestwärme
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