Walther Rathenau als Philosoph
Vor 100 Jahren fiel Walther Rathenau, Außenminister der Weimarer Republik, einem Attentat zum Opfer. Mit ihm starb nicht nur einer der beliebtesten Politiker des Landes, sondern auch ein vielgelesener Philosoph, der im Räderwerk der Moderne Spielräume der Intuition suchte. Seine Ideen zur Wirtschaftsplanung und Vereinigung Europas wirken bis heute nach.
Walther Rathenau, der heute vor 100 Jahren von Rechtsradikalen ermordet wurde, kennt man vor allem als Politiker und Außenminister der frühen Weimarer Republik. Dabei war er auch Unternehmer, Schriftsteller, Künstler, Architekt - und einer der meistgelesenen Philosophen der 1910er Jahre. Aufgewachsen als Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau, eines der wichtigsten Industriellen des Kaiserreichs, und heimisch in den Berliner Salons, litt er unter der Doppelrolle als Angehöriger der Wirtschaftselite und Randfigur, in die er als Jude stets gedrängt wurde.
Mechanisierung der Seele
Nach der Jahrhundertwende verfasste Rathenau, der intensiv Spinoza, Böhme, Meister Eckhart und Fichte gelesen hatte, philosophische Werke, die mit der universitären Schulphilosophie kollidierten. Sein Freund Harry Graf Kessler beschrieb Rathenau als Angehörigen einer in Deutschland seltenen Spezies von Philosophen: Als „Moralisten“ mit staatsmännischen Erfahrungen, der wie Chamfort, Vauvenargues oder Rivarol „in die Geheimnisse des menschlichen Herzens und des gesellschaftlichen Lebens mit Geist, mit Feingefühl, mit schöpferischer Phantasie eingedrungen [ist] und mit blitzblank geschliffenen Sätzen hineinleuchte[t]“. Heraus kamen keine dissertationstauglichen Kant-Exegesen, sondern eine Erlebnisphilosophie, die den Vorrang der Erfahrung gegenüber dem Intellekt beanspruchte, der Intuition gegenüber dem Kalkül, der Klugheit gegenüber der Bescheidwisserei.
In rascher Reihenfolge publizierte Rathenau drei Bücher, in denen er sein Weltbild entrollte: Zur Kritik der Zeit (1912), Zur Mechanik des Geistes (1913) und Von kommenden Dingen (1917): Das eine behandelte die Zersplitterung der modernen Seele, das andere suchte nach Gegenkräften und menschheitsgeschichtlichen Sinnbezügen. Der Abschlussband – Rathenaus erfolgreichstes Buch – präsentierte Lösungswege und Zukunftsentwürfe, getragen von einem prophetischen Ton, der in der sinnsuchenden nachwilhelminischen Gesellschaft auf fruchtbaren Boden fiel.
Philosophie der Intuition
Der Grundkonflikt besteht für Rathenau zwischen einer Seele, die zu Gott will, und dem Intellekt, der Zwecke erfüllt – Zwecke, die Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten in einen sich immer rascher drehenden Fortschrittsstrudel gerissen hatten. Industrialisierung, Technisierung, Verstädterung und Beschleunigung, die wachsende Arbeiterbewegung, die Gräuel des Schützengraben- und Maschinenkriegs und eine wankende Monarchie stellten gewohnte Lebens- und Denkweisen infrage. Dagegen protestierte die Seele, jener schwer zu bestimmende Impuls aus dem Inneren, den Rathenaus Schriften umkreisten.
Diese Seele kann jedoch die Technik nicht einfach beiseiteschieben, sie wächst an der Technik und kann, so Rathenau, einen neuen Glauben entwickeln, eine „göttliche Zuversicht“, die die Technik mit einer anderen Bedeutung versieht. Rathenau will nicht heraus aus dem mechanischen Räderwerk der Moderne, sondern tiefer hinein. Es kann „die Mechanisierung nur durch die Mechanisierung überwunden werden“. „Was ursprünglich aus Gier und Furcht geschah“, muss nun aus „innerlichem Bewußstein“ geschehen. Man muss sein Schicksal lieben lernen und die Seele in der Maschine erkennen.
Damit folgt Rathenau in mancher Hinsicht Max Weber, der keinen Ausweg aus dem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ sah, sich zu fügen empfahl und bereit war, die „Diktatur des Beamten“ hinzunehmen. Rathenau stemmte sich aber gegen Webers Resignationsbereitschaft, wo er Spielräume der Intuition erkannte, die die Mechanik überlistet, anleitet und umwidmet. Intuition ist Rathenaus großer Gegenbegriff zu Vernunft und Kalkül, seine Leitidee, um die Welt zu spüren, von der der Intellektuelle getrennt bleibt, sein Beitrag zur Aufklärung über sich selbst.
„Die Wirtschaft ist unser Schicksal“
Diese Intuition blieb kein Philosophem. Sie war Rathenaus – der sich als Künstler verstand – Lebenstrieb und führte ihn zu den erstaunlichsten Entscheidungen, die oft im Widerspruch zu seinen politischen Überzeugungen standen: Der Handelspazifist organisiert ab 1914 die Kriegswirtschaft und entwickelte sich – als Großindustrieller – zum Sozialisten, auf dessen Planungsideen sich später Lenin bezog. Als deutschnationaler Patriot war er zugleich Vordenker einer europäischen Einigung und als Anhänger einer Demokratie nach westlichem Vorbild schloss er 1922 einen Pakt mit der Sowjetunion – alles, um die Position Deutschlands auf internationalem Parkett zu verbessern.
Damit spürte er politischen Logiken nach, die sich erst in den kommenden Jahrzehnten entfalten sollten, wenn auch auf andere Weise: Seine Planungsideen, geboren aus dem Geist des Krieges, flossen in den Sozialstaat und die makroökonomische Konjunkturpolitik ein. Und die Idee eines vereinten Europas erwies sich als der gangbarste Weg zur deutschen Positionsverbesserung, die Rathenaus Ziel war. Als größtem Mitglied fällt Berlin automatisch die Führungsrolle auf dem Kontinent zu. Dazu ist es mit der Gründung der Europäischen Union und des Euro tatsächlich gekommen – vielleicht nicht immer zum Vorteil aller Länder, aber das Gebilde ist einigermaßen stabil, auch weil es Rathenaus Diktum, „Die Wirtschaft ist unser Schicksal“ ernstgenommen hat und als ökonomisches Projekt begonnen wurde.
Durch Planung, also Intensivierung, und postnationale Zusammenlegung, also Expansion des Staates verschärft sich nun aber jenes Problem der „Mechanisierung der Seele“, das am Anfang von Rathenaus Überlegungen zur Moderne stand. Da er jedoch auf die Mechanisierung mit weiterer Mechanisierung antwortete, dürfte er mit dem heutigen Zustand ganz zufrieden sein: Mit einem großeuropäischen Räderwerk, in dem neue Seelenzustände und Intuitionsmöglichkeiten aufblitzen, allein schon, weil es ein völlig neues Gebilde ist, weder Fisch noch Fleisch, weder Staat noch Nicht-Staat, sondern ein immer weiter wachsendes Wunder, das wir nur bestaunen können. •
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