Identitätspolitik à la Amazon
Über sein „support small businesses“-Programm fördert Amazon in den USA gezielt Shops, die von Frauen, Schwarzen oder Veteranen geführt werden. Was Einzelnen tatsächlich helfen kann, nutzt am Ende aber vor allem Jeff Bezos.
Amazon wird woke. Seit Mitte des Jahres gelten für Prime-Film- und Serienproduktionen neue Diversity-Richtlinien. Frauen sollen mehr kreative Verantwortung tragen, Charaktere, die eine sexuelle, religiöse oder ethnische Minderheit repräsentieren, nur noch mit Darstellenden besetzt werden, die diese Identität teilen. Produktionen, die sich nicht an die Vorgaben halten, werden nicht gekauft. Trotz der Eingriffe in die Kunstfreiheit und das Filmhandwerk wirken die Richtlinien der mangelhaften Repräsentation von Minderheiten durchaus wirksam entgegen – und haben dabei auch eine ökonomische Dimension. Denn die Diversity-Regeln versprechen den strukturell benachteiligten Bevölkerungsgruppen innerhalb der Filmbranche vor allem eines: Jobs.
Jetzt startet Amazon in den USA die nächste Identitätsoffensive. Das „support small businesses“-Programm fördert bereits seit einiger Zeit bestimmte Bevölkerungsgruppen, bisher woman-, family-, und military family-owned businesses (Versandshops von Veteranen). Im Juni 2021 bekamen nun auch black owners ihre eigene Kategorie. Gegen die Vorlage eines staatlich ausgestellten Zertifikats können von den Kleinunternehmen zudem finanzielle Unterstützungen, Mentoringangebote und kostenlose Promotion-Aktionen in Anspruch genommen werden. Im Einzelfall kann all das eine große Hilfe sein.
Amazons neue Sorge um Identitäten lässt sich mit der Philosophin Nancy Fraser als exemplarischer Ausdruck des „progressiven Neoliberalismus“ fassen. Fraser bezeichnet damit den politischen Schulterschluss zwischen neuen sozialen Bewegungen und einflussreichen Unternehmen aus dem Service- und Kultursektor. Dem progressiven Neoliberalismus gelänge es durch kleine Zugeständnisse an feministische, ökologische und anti-rassistische Bewegungen, ein neues Bündnis zwischen Wall Street, kleinen Unternehmen, einkommensstarken suburbanites und gut gebildeten jungen Menschen zu schmieden. Für Fraser beschränkt sich diese Strategie jedoch stets auf die Förderung von Individuen. Organisierte Forderungen nach kollektiver Umverteilung oder betrieblicher Demokratisierung sollen durch sie verhindert werden. Bereits Audre Lorde, die den Begriff der Identität erstmals politisch erschließen wollte, hatte in eine ähnliche Richtung argumentiert. Die 1992 verstorbene Schriftstellerin und Aktivistin warnte bereits in den 80er Jahren progressive Kräfte vor den Verführungen einer „unvollständigen Vision“.
Identitätspolitischer Treppenwitz
Lorde selbst stand zwischen verschiedenen Identitäten. Sie war eine afroamerikanische, lesbische Schriftstellerin, die sozialistische Ideen vertrat und Mutter zweier Kinder aus einer Ehe mit einem schwulen, weißen Mann. „In der Regel gab es immer einen Teil von mir“, beschrieb sie ihren Alltag, „der garantierte, dass ich die bequemen Erwartungen verletzen würde, die andere von meiner Rolle hatten.“ Mit einem gestärkten Bewusstsein für Identität wollte Lorde die zersplitterten Bürgerrechtsbewegungen miteinander ins Gespräch kommen lassen und eine starke Zusammenarbeit zwischen radikalen Kräften ermöglichen. Differenz im Konkreten anzuerkennen und zu akzeptieren, so Lordes Hoffnung, sollte zur grundsätzlich geteilten Erkenntnis führen, „dass es in jedem Menschen irgendeinen Teil von Menschlichkeit gibt, der weiß, dass uns die Maschinerie nicht dient, die alle unsere Zukunft zu Staub zermalmt.“
Amazons Geschäftsmodell mit seinem System an Subunternehmen, in den USA noch immer fehlenden Gewerkschaften und fragwürdigen Zuliefererverträgen verfolgt nunmehr eine hochgradig kuratierte Identitäts- und Sichtbarkeitspolitik. In ihr tritt zurück, wer über das Privileg der Sichtbarkeit entscheidet: Nämlich die meist männlichen Manager und Investoren, die von Zugeständnissen an progressive Kräfte am stärksten profitieren. Bei der siebenköpfigen Spitze der Amazon-Hierarchie, in der immerhin auch eine Frau sitzt, hört Diversity auf. Mit dem beherzten Griff in den Begriffsvorrat der Identitätspolitik eignet sich Amazon eine der Idee nach oppositionelle Strategie an. Die Fakten sprechen für sich: In der Pandemie verzeichneten US-amerikanische minority-owned businesses einen rund 15% stärkeren Umsatzeinbruch als die weißer Inhaberinnen und Inhaber, während die Arbeitslosigkeit insbesondere von Frauen und jungen Menschen weltweit noch immer ansteigt, verdreifachte sich im ersten Quartal 2021 der Gewinn Amazons im Verhältnis zum Vorjahr – und CEO Jeff Bezos flog mit Cowboyhut ins All.
Bezos Space-Western-Ästhetik ist ein identitätspolitisch äußerst aufschlussreicher Treppenwitz. In ihrer halbironischen Verschmelzung von Technik-, Tourismus- und Siedlernarrativen zeigt sich das, was die Soziologin Raewyn Connell „hegemoniale Männlichkeit“ nennt. In ihrem programmatischen Aufsatz Masculinities and Globalization versuchte die Forscherin sich bereits 1998 einer „global gender order“ zu nähern. Ein Blick auf das Lokale, so ihre These, sei in einer globalisierten Welt nur bedingt aussagekräftig. Heute beforscht sie deshalb vor allem Personen im höheren und mittleren Management sowie aus dem Finanzsektor. Hier werde jene hegemoniale Männlichkeit gelebt, an der sich alle anderen Identitäten zu messen hätten. Nämlich das Ideal des ehrgeizigen und flexiblen Managers.
Entschärfte Sprengkraft
Lokale small-businesses, die Amazon als primären Vertriebsweg nutzen, sind de facto allesamt halb-autonome Einheiten im selben Konzern. Die Identitätspolitik der Chefetage ist innerhalb einer solchen Struktur das neoliberale Äquivalent zur Politik des starken Mannes. Ein wohlwollender Patriarch nimmt sich den Schwächsten an, was deren Abhängigkeit von ihm nur weiter verstärkt. Der Auftritt der kategorisierbaren Identitäten spielt diesem zentralistischen Führungsstil zu, denn eine Auseinandersetzung mit den Unternehmensrealitäten wird so hinfällig. Die tatsächlichen Produktionsbedingungen und Geschäftskulturen der selbstverwalteten Mini-Unternehmen, ob die Ressourcen aus nachhaltigem Anbau kommen oder der Betrieb familienfreundlich geführt wird, wie offen er Gegenkulturen begegnet und lebt, verschwinden hinter einem symbolischen „Tokenismus“, wodurch die Komplexität menschlichen Miteinanders auf ein handhabbares Maß reduziert wird.
Connell unterstreicht in ihrer Arbeit, dass die Männer des gehobenen Managements es lieben, Regeln aufzustellen, Ziele zu vereinbaren, die effektivsten Lösungen zu errechnen. In dieser Geradlinigkeit gründet ihre Autorität. Vermag man bei dieser Inszenierung von Freiheit mitzuspielen, erwarten den Einzelnen durchaus Profite. Identität als mehrdeutige, politische Kategorie von weitreichender Sprengkraft wird in ihr allerdings entschärft zu einem technischen Problem. Amazons Diversity-Offensiven bringen so immerhin eine Erkenntnis: Die Identität, die die Männer des Managements in ihren Spielen bereit sind anzuerkennen, ist vornehmlich die der owner mit ihren Geschäften. Mit dieser Identität – oder besser: Identifikation – lässt sich arbeiten. Die Menschen und ihre Widersprüche sind aus ihr herausgekürzt. •
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