Die TikTokisierung der Welt
Der physische Raum folgt zunehmend der Ästhetik und Funktionslogik virtueller Welten: Einerseits werden Objekte aus dem virtuellen Raum „importiert“. Andererseits wird der öffentliche Raum wie ein Reel konsumiert.
Chinas berühmtester Influencer hat Kulleraugen und spitze Zähne: Labubu. Die kleinen Polyester-Plüschtiere, die man sich als Accessoire an Taschen oder Rucksäcke hängt, haben einen riesigen Hype entfacht: Von London bis Shanghai stehen Menschen Schlange, um eine der begehrten Schlüsselanhänger-Figuren zu ergattern. Der chinesische Spielzeughersteller Pop Mart, der die Monster vertreibt, kommt mit der Produktion kaum noch hinterher. In vielen Läden sind die Trendfiguren ausverkauft. Hello Kitty war gestern, Labubu ist heute. Alle wollen die zottelig-grimmigen Plüschtiere haben.
Längst zeigen sich auch Stars wie Rihanna, David Beckham und Kim Kardashian mit Labubu-Figuren. Sogar Mitglieder des thailändischen Königshauses wurden bereits mit dem Trend-Accessoire gesichtet. Labubu ist Teil eines Phänomens, in dem sich virale Dynamiken, globale Handelsströme und Gamifizierung verbinden: Kreiert von dem Hongkonger Künstler Kasing Lung, gingen die nach nordischen Elfen modellierten Plüschtiere erst auf TikTok viral, bevor der Trend in die reale Welt überschwappte.
Die populäre Videoplattform hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Hype- und Trend-Maschine entwickelt, die die wunderlichsten Dinge produziert: Anfang des Jahres tauchte ein Hai in blauen Turnschuhen auf, der zu Rhythmen von Camila Cabellos Sommerhit „Havana“ durch die Timelines von TikTok, Instagram und Co. hüpft und italienische Nonsense-Kommentare von sich gibt: Tralalero Tralala. Das KI-generierte Fabelwesen ist das Aushängeschild von Italian Brainrot, einer Serie von grotesken Audio-Memes und Mash-ups, in der sich Popkultur und Internethumor mischen.
Wenn die abstrakt-mathematische Logik algorithmischer Feeds auf das Stahlgehäuse der Globalisierung trifft, entstehen Hybridwesen wie Bombardino Crocodilo, ein Kampfjet mit Krokodilkopf, oder Ballerina Cappuccina, eine Ballerina mit Cappuccino-Tasse auf dem Kopf. Als hätte die KI halluziniert. Roland Barthes hätte seine wahre Freude gehabt. Die bizarren Kreaturen sind so ikonisch, dass sie auf T-Shirts gedruckt oder als Avatare in Computerspielen reproduziert werden. Auf Etsy werden Fan-Artikel wie Malbücher, Tassen und Schlüsselanhänger feilgeboten, die Fast-Food-Kette KFC legte populäre Brainrot-Charaktere als Spielzeugfiguren in ihre Menüs.
Sinnlosigkeit ist Programm
Dass die reale Welt von Figuren und Objekten aus der virtuellen Welt bevölkert wird, ist kein neues Phänomen. So wurden Pokémon 1996 auf dem Game Boy von Nintendo geboren, bevor sie als physische Sammelkarten und Kuscheltiere auf den Markt kamen. Doch im Gegensatz zu den japanischen Taschenmonstern, die zunächst als Spiel veröffentlicht wurden, gibt es bei Labubu oder Italian Brainrot überhaupt keine Story mehr – die Sinn- und Bedeutungslosigkeit ist Programm. Die Labubu-Figuren und Brainrot-Charaktere sind Geschöpfe eines postfiktionalen Zeitalters, in dem Fiktionen durch das permanente Teilen inhaltsleerer „Stories“ erschöpft sind; die Kreaturen sind im Grunde bereits auserzählt, wenn sie den virtuellen Raum verlassen. Im englischsprachigen Diskurs hat sich dafür der Begriff „fad“ etabliert: eine kurzlebige, nicht lange anhaltende Modeerscheinung.
Auffällig ist, dass Labubu und die Italian-Brainrot-Charaktere – wie im Übrigen auch das populäre „Grumpy Cat“-Meme – besonders hässliche Exemplare einer algorithmischen Bilderkultur sind. Zumindest nach klassischen ästhetischen Idealen. Die Timelines sozialer Netzwerke sind gespickt mit Groteskem – von Tralalero Tralala bis „Shrimp Jesus“ hat die (halluzinierende) KI für diverse Transmutationen gesorgt. Und dies hat womöglich weniger mit einer radikalen Punk-Ästhetik als vielmehr mit der aufmerksamkeitsökonomischen Logik algorithmengesteuerter Öffentlichkeiten zu tun. „Schlechter Geschmack ist eine Möglichkeit, aufzufallen, wenn zu viele Bilder vorhanden sind“, konstatiert der Kulturkritiker Dean Kissick in einem Essay für das Magazin Spike. „Schönheit ist langweilig, also wenden wir uns dem Grotesken zu.“ In einer Konsumwelt, in der einem überall strahlend weiße Zähne präsentiert werden, fallen grimmige Monster mit Haifischzähnen (Labubu) auf.
Der in Japan lebende amerikanische Kulturjournalist W. David Marx hat Labubu als bloße „Zeichen von Internetwissen“ bezeichnet: Das, was man online in einem vertikalen Video gesehen habe, erwerbe man nun im wirklichen Leben. Die heutige (Online-)Kultur, so Marx‘ Beobachtung, sei um die Spannung zwischen zahlenden Labubu-Käufern und „verärgerten, widerwilligen Konsumenten der Labubu-Geschichte“ herum aufgebaut.
Der kulturelle Wert von Trendiness
Zwar habe es schon immer Modeerscheinungen gegeben, so Marx. „Fads“ seien in den 1950er Jahren ein wichtiger Teil der Kultur gewesen (Hula-Hoop-Reifen, Telefonzellenfüllungen etc.). Der Unterschied zu heute bestehe jedoch darin, dass sich die Kulturproduktion in „video-first cultures“ wie TikTok oder Instagram verlagere, die Trendiness zum kulturellen Wert erheben. Es sei daher kein Zufall, dass die jüngsten Trends an Orten wie Dubai und China ihren Anfang nehmen, „wo der moderne Konsum in hohem Maße online stattfindet und scheinbar keine Wurzeln in der langjährigen kulturellen Tradition hat“.
Fast-Fashion-Plattformen wie Temu oder Shein, die mithilfe von KI-gestützten Datenanalysen Trends vorhersagen und diese mit einem Netz angedockter Textilfabriken umsetzen, haben gar keine physischen Geschäfte mehr; die immateriellen Daten werden sofort zu Kleidung gesponnen und ausgeliefert. Fast Fashion ist wie maßgeschneidert für die schnelllebigen Zyklen digitaler Konsumwelten: Man kann die Kleidung wechseln wie ein Profilbild. Erst wischt man weg, dann wirft man weg.
Auch im Westen sind On- und Offlinewelten immer stärker miteinander verschränkt. So finden Memes und Comic-Figuren wie „Pepe the Frog“ oder „Kermit“ Eingang in Protestkulturen und zieren Hüte, Kopfkissen oder T-Shirts. Das Interessante dabei ist, dass der physische Raum der Ästhetik und Funktionslogik virtueller Welten folgt: Einerseits werden Objekte aus dem virtuellen Raum in den physischen Raum „importiert“. Andererseits wird der öffentliche Raum zunehmend wie ein Reel konsumiert und zur Kulisse für die digitale Selbstinszenierung und Selbstbespiegelung: Touristen strömen in Scharen zu fototauglichen Instagram-Hotspots (zum Leidwesen der Anwohner), Bars und Cafés richten ihre Dekoration wie Kerzen oder Lichter auf das Hochformat von Handy-Kameras aus.
Das Überschwappen der Virtualität
In New York hat vor wenigen Monaten ein Jellycat-Diner eröffnet, in dem Bagel und Burger in Gestalt der Kult-Kuscheltiere zum Verzehr angeboten werden. Der disneyhafte Raum, der in blauen Bonbonfarben gestaltet ist, ist wie ein Computerspiel designt: Das gesamte Interior wirkt wie eine „Zeichen-Attrappe“, wie es der französische Soziologe Jean Baudrillard nannte. Der Besucher weiß schon gar nicht mehr, ob er sich in einer realen oder virtuellen Welt bewegt – die Grenzen sind verschwommen. Willkommen in der Hyperrealität.
Nach Baudrillard dienen Simulakren wie Disneyland dazu, den Verlust der Realität in der übrigen Welt zu verschleiern: „Disneyland existiert, um das „reale“ Land, das „reale“ Amerika, das selbst ein Disneyland ist, zu kaschieren.“ Disneyland täuscht darüber hinweg, dass die Welt selbst eine Simulation ist: voller künstlich konstruierter Zeichen und Bilder. Die Illusion besteht also darin zu glauben, dass, wenn man die Fantasiewelt eines Freizeitparks sieht, die restliche Welt für authentisch hält. Genau wie Disneyland hält TikTok die Illusion des Realen aufrecht. Doch im Gegensatz zu Disneyland muss die Künstlichkeit im Zeitalter von KI gar nicht mehr kaschiert werden, weil es kein Außen und Innen mehr gibt. TikTok ist überall: auf dem Handy, auf dem Teller, auf dem Pausenhof. Die Menschen tauchen in die Bildschirmwelt ein, und die Bildschirmwelt kehrt zurück. Eskapismus? Fast unmöglich. Der nächste TikTok-Trend steht schon in den Startlöchern. •