François Noudelmann: „Die Hamas-Rhetorik ist in den Slogans weitgehend dominant“
An zahlreichen US-Universitäten wird gegen den Gaza-Krieg protestiert. Ist das antisemitisch? Nicht notwendig, meint der Philosoph François Noudelmann, aber häufig eben schon. Ein Gespräch über verbale Gewalt, Ideologie in den Geisteswissenschaften und die geringe Bedeutung der internationalen Politik für die US-Wahlen.
In vielen Ländern protestieren aktuell Studenten gegen den Krieg in Gaza, indem sie Campi besetzen. Wie groß ist die Bewegung in den Vereinigten Staaten?
Man sollte das Ausmaß nicht überschätzen. An der New York University (NYU), an der ich lehre, spricht man von etwa 100 aktiven Studenten, die etwa 20 Zelte aufgestellt und Blockaden durchgeführt haben – 100 von 63.000 Studenten. Es ist auch interessant, sich diese Protestform soziologisch anzusehen. Sie findet oft an reichen Universitäten statt. Ein Studium an der Columbia University, die heute die Speerspitze dieser Bewegungen ist, kostet rund 66.000 Dollar pro Jahr. Die Demonstranten gehören also zum Großteil und mit wenigen Ausnahmen einer durchaus wohlhabenden Bevölkerungsgruppe an.
Ist es zu Zusammenstößen gekommen?
Zwar gab es an der NYU, im Gegensatz zur University of California in Los Angeles (UCLA), glücklicherweise keine Zusammenstöße oder körperliche Gewalt, allerdings kam es zu gewalttätigen Handlungen. So wurden etwa Porträts der israelischen Geiseln abgerissen. Auch aggressive Slogans wie „Globalize intifada” oder „Death to America" waren zu hören. An einigen Demonstrationen, wie jener am Washington Square, nahmen auch jüdische Studenten teil. Insgesamt hielt sich die physische Gewalt im Gegensatz zur verbalen in Grenzen, wobei letztere allerdings beachtlich ist.
Könnten Sie das ausführen?
Viele US-amerikanische Universitäten verfolgen seit längerer Zeit eine Politik der „DEI” („Diversity, Equity, Inclusion“), die darauf abzielt, alle Mikroaggressionen gegenüber sexuellen, rassischen, ethnischen, religiösen usw. Minderheiten zu beseitigen. Da kann man durchaus stutzig werden, dass es nun dieselben Leute sind, die noch vor einiger Zeit die sofortige Entlassung von Dozenten forderten, weil diese falsche Lektüreempfehlungen gegeben haben, die heute Meinungsfreiheit für Handlungen fordern, die ganz klar Minderheiten verletzen. Man fragt sich, warum Juden für viele Studierende nicht als Minderheiten erkenntlich sind, warum man ihnen nicht mit „DIE“ begegnen sollte, obwohl sie nur 2,4 Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmachen. Wir erleben einen sehr flexiblen Anspruch auf Meinungsäußerung und Schutzbedürftigkeit – je nach Anliegen, je nach Kontext. Das hat zu diesen katastrophalen Interviews von Universitätspräsidenten im Kongress geführt; es schien ihnen unmöglich, eine klare Antwort auf eine Frage zu geben wie: „Ist es schlimm, zum Völkermord an den Juden aufzurufen?“
Hat die Polizei eingegriffen?
Die Präsidentin der Universität rief schließlich die Polizei, um die Zelte zu entfernen und für die Sicherheit des Viertels zu sorgen. Der Fall der NYU ist allerdings auch speziell: Es handelt sich um einen über New York verstreuten Campus und nicht um einen riesigen, in sich geschlossenen Komplex. Wir befinden uns mitten in der Stadt, sodass die Unordnung schnell über die Mauern der Universität hinausgeht. Zum Beispiel werden auch Straßen von Anwohnern durch Studenten blockiert.
Wie werden diese Bewegungen innerhalb der Professorenschaft wahrgenommen?
Auch hier sind die Dinge aus soziologischer Sicht interessant. Die Sympathie für die pro-palästinensischen Camps kommt vor allem aus den „Humanities“, den geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Nicht aus der Mathematik, den Wirtschaftswissenschaften oder der Medizin. Diese recht starke Mobilisierung der Geisteswissenschaften reaktiviert eine immer wiederkehrende Debatte über den „ideologisierten“ Charakter dieser Disziplinen, in denen das politische Engagement angeblich Vorrang vor der Vermittlung von Inhalten hat.
Diese Mobilisierung wird oft mit der symbolträchtigen Mobilisierung der Studenten gegen den Vietnamkrieg verglichen. Halten Sie diesen Vergleich für angebracht?
Der Vergleich wurde von Bernie Sanders ins Spiel gebracht und stieß schnell auf breite Resonanz. Allerdings scheint er mir nicht besonders fundiert zu sein. Die Größenordnung ist nicht dieselbe und darüber hinaus gibt es noch zahlreiche andere Unterschiede. Zum einen intervenierte der amerikanische Staat in Vietnam direkt mit Waffengewalt. Zum anderen richteten sich die Studentenbewegungen gegen den Vietnamkrieg nicht gegen einen anderen Teil der amerikanischen Bevölkerung, wie es heute der Fall ist. Auch die Bedeutung internationaler Fragen hat sich für die Jugend geändert. Die New York Times gab kürzlich an, dass nur 2 Prozent der Jugendlichen die internationale Politik als Kriterium für die Wahl von Trump oder Biden ansehen. Im Fall von Palästina liegen deren Standpunkte allerdings auch nicht weit auseinander. Die Umfrage zeigt, dass die internationale Politik kein entscheidendes Thema mehr ist – im Gegensatz zu Fragen rund um den Klimaschutz oder die wirtschaftliche Lage im Land selbst.
Sind Universitäten aus Ihrer Sicht legitime Orte, um politische Überzeugungen auf diese Weise kundzutun?
Ja, natürlich! Glücklicherweise sind Universitäten Orte, an denen Debatte und Kritik erlaubt sind. Dies ist jedoch nur möglich, wenn Respekt herrscht und keine Gewalt und Belästigung gegenüber anderen Studenten ausgeübt wird – was heute nicht überall der Fall ist. Wir dürfen nicht verallgemeinern. Nicht alle demonstrierenden Studenten sind Antisemiten. Aber die Hamas-Rhetorik ist in den Slogans weitgehend dominant: Das Ergebnis ist schrecklich: Antisemitismus ist zu einem nationalen Thema geworden, so sehr, dass Präsident Biden es sogar jüngst zum Hauptgegenstand einer Rede machte. Das ist es, was mir äußerst problematisch erscheint: nicht die Mobilisierung oder der legitime Ausdruck von Sympathie für die Zivilbevölkerung in Gaza, sondern der ungehemmte Antisemitismus. •