Inszenierte Wahrhaftigkeit
In Brechts Dreigroschenoper stößt Claas Oberstadt auf einen eindrücklichen Satz und fragt sich: Muss man wahres Leid inszenieren, um es glaubhaft zu machen?
Die Dreigroschenoper hat ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht, da kommt dieser Satz daher. Man sitzt dort, wo das Stück vor fast hundert Jahren zu seiner Uraufführung kam, im Theater am Schiffbauerdamm, also dem Berliner Ensemble. Von hier aus ist es zum Erfolgsgaranten auf Bühnen weltweit geworden. Einzelne Sätze wurden Postkartensprüche, Leitsterne für Hoffnungssuchende; ganze Lieder zu Klassikern, deren Melodien man unbewusst mitsummt. Und doch blieb der Autor ein ewiger Querulant, ein unorthodoxer Marxist – und einer der großen Glaubensbekenner des Theaters: Bertolt Brecht. Eigentlich ist es auch nur ein halber Satz, ein hingeworfener Taler, nach dem man sich mühsam bücken muss: „Weil einem niemand sein eigenes Elend glaubt.“
Ist die Lüge wahrhaftiger als die Wahrheit?
Er stammt von dem doppelzüngigen Geschäftemacher Peachum, noch bevor er ahnen kann, dass seine Tochter den berüchtigten Mörder Mackie Messer heiraten wird – und die Achterbahn aus Liebe und Betrug Fahrt aufnimmt. In der als Räuberpistole getarnten Sozialstudie Brechts, die irgendwo zwischen den Armenvierteln Londons im vorletzten Jahrhundert, dem Berlin der Weimarer Republik und – Dank der Neubearbeitung von Barrie Kosky – der Gegenwart schwebt, stattet Peachum Bettler mit Krücken und Augenklappen aus. Mit diesen Requisiten verwandeln sie die Straße in ihre Spielstätte: ein Theater des täglichen Leids. Wer ohnehin bereits humpelt, soll nicht auf sein Bein verweisen, sondern kriegt von Peachum Augenklappe und Blindenstock verpasst. Leid braucht Darstellung, das ist seine Lehre. Wirkt die Lüge etwa wahrhaftiger als die Wahrheit?
Gerade heutzutage, wo unterschiedlichste Gruppen auf ihr je spezifisches Leid verweisen, wo man auf den vielen Digitalkanälen um Aufmerksamkeit und Anteilnahme ringt, erscheint die Frage nach der Darstellung von Emotionen drängender denn je. Der Literaturwissenschaftlerin Anna Kornbluh zufolge leben wir in einer Kultur der Unmittelbarkeit. Das Angebot: Scheinbar ungefiltert, ganz direkt steht die Welt zur Verfügung; darin sieht sie das große Versprechen der heutigen Zeit: „to cut out the middleman“. In der Popkultur interagieren Stars direkt mit ihren Fans, literarische Autofiktion gewährt Zutritt in die persönlichsten Regionen der Seele und selbst ein Donald Trump hat sich mit Truth Social seine eigene Plattform gebastelt, um ganz ungefiltert – und ungehindert – mit seinen Followern zu kommunizieren. Was früher über Mittler, wie den Journalismus, lief, das machen heute die Plattformen, das Social Media-Team oder die Einzelnen ganz selbst – so jedenfalls das Versprechen.
Leid braucht Darstellung
Doch braucht es auch in einer Unmittelbarkeitskultur die passende Lichtstimmung, Videos müssen geschnitten und mit Musik unterlegt werden; auch auf textbasierten Kanälen setzt die Plattformlogik auf pointierte Direktheit. Kurzum: Gefühle wollen dargestellt werden, sie brauchen eine Bühne. Das heißt keineswegs, dass Gefühle unecht wären. Es bedeutet vielmehr, Gefühle als widerspenstige, ja gespenstische Dinge ernst zu nehmen: Zwar kann ich mitfühlen, aber nicht das Gefühl der anderen Person selbst wahrnehmen. Es bleibt eine feine Linie zwischen dem eigenen und dem fremden Fühlen.
Schauen wir einen Film – oder schaffen den Weg ins Theater – so können wir der Herstellung von Gefühlen beiwohnen, diesem allzu alltäglichen Prozess in die Karten schauen. Das entspricht ganz Brechts Anspruch des epischen Theaters, das die Zuschauer nicht in eine Fiktion einlullen, sondern eine kritische Reflexion antreiben sollte. Dafür nutzte Brecht den Verfremdungseffekt, ob durch ein Spiel, das immer eine Distanz zum Dargestellten wahrt, oder die Unterbrechung durch Lieder, die eine Abstraktionsebene in das Schauspiel auf der Bühne einziehen. Im herannahenden Faschismus seiner Zeit erkennt Brecht eine „Krise der Emotionen“, die mit einem Verfall der Vernunft einhergehe. Das Ende der Weimarer Republik sei geprägt von einer „grotesken Betonung des Emotionellen“. Da soll das Schauspiel auf der Bühne Abhilfe schaffen, aufrütteln. Was lässt sich also für eine Gegenwart, wo Emotionen, das scheinbar Ungefilterte gerade von rechter Seite genutzt wird, aus seiner Dreigroschenoper mitnehmen? Mit Brecht ließe sich die Relevanz der Darstellung – dem Gebrochenen, der Doppelbödigkeit – preisen: „Weil einem niemand sein eigenes Elend glaubt.“•
Claas Oberstadt studierte Philosophie in Berlin, Aarhus und New York, mit Schwerpunkten in der Sozialphilosophie, Affekt- und Emotionsforschung sowie postkolonialer Theorie. Seit April 2023 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg „Kleine Formen“ der Humboldt-Universität zu Berlin. Neben seiner Promotion schreibt er für die Zeit und Zeit Online.