Nichts als die Wahrheit?
Ein vom Schriftsteller Ferdinand von Schirach mitinitiiertes Manifest fordert ein „Recht auf Wahrheit“ gegenüber Amtsträgern. Was zunächst nach einem Segen für die Demokratie klingt, wäre nach dem Politikverständnis Hannah Arendts jedoch das genaue Gegenteil.
„Neue Grundrechte für Europa“ lautet die Forderung der Kampagne Jeder Mensch. Das gleichnamige Manifest dieser Initiative entstand dabei unter der Federführung des Autors und Juristen Ferdinand von Schirach. Enthalten sind darin sechs Artikel, die als „Ergänzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Verfassungen ihrer Mitgliedstaaten“ verstanden sein wollen. Sie sollen Antworten auf die in jüngster Zeit deutlich gewordenen Bedrohungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung geben und reichen von Umweltschutz (Art. 1) über Digitale Selbstbestimmung (Art. 2) bis zu Künstlicher Intelligenz (Art. 3) und den Produktionsbedingungen der Globalisierung (Art. 5).
Ganz besondere Beachtung verdient der vierte Artikel: „Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.“ Der Grund für diese Forderung liegt auf der Hand: Kaum etwas scheint in den letzten Jahren für so viel gesellschaftliche Spaltung und öffentliches Unheil gesorgt zu haben, wie die Verwässerung und Leugnung von Fakten. Seien es die berüchtigte Buskampagne der Brexiteers, die rund 30.000 gezählten Lügen und Falschaussagen der Trump-Regentschaft oder die schamlose Negierung von Pandemie-Gefahr und Umweltzerstörung durch Jair Bolsonaro und andere Politiker: Wie sollte man dem spaltenden Wirken derart unverblümter Wahrheitsleugner Einhalt gebieten, wenn man sie nicht für Wortbruch und manipulative Falschaussagen zur Rechenschaft ziehen kann?
So nachvollziehbar dieser Impuls auch sein mag, birgt er doch selbst große Probleme. Bei näherer Betrachtung bedeutet die Wahrheitspflicht in der Politik nämlich nichts Geringeres als die Untergrabung der freiheitlich-demokratischen Ordnung.
Nicht verhandelbar
Um dies zu verdeutlichen, muss man sich zunächst den Begriff der Wahrheit genauer ansehen. Eine der folgenreichsten Bestimmungen führte dabei Gottfried Wilhelm Leibniz ein, indem er zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten unterschied. Vernunftwahrheiten wie „1=1“ seien logisch zwingend und objektiv nachvollziehbar, während Tatsachenwahrheiten wie „Es regnet gerade“ der Überprüfung durch die Erfahrung bedürfen. Mittels dieser begrifflichen Unterscheidung lässt sich das Verhältnis von Wahrheit und Politik näher bestimmen: Verweist ein Politiker auf Vernunftwahrheiten, um seinen eigenen Standpunkt zu rechtfertigen, so bewegt er sich im Bereich unangreifbarer Notwendigkeiten. Das Problem dabei: Derartige Argumentationsmuster tendieren stets dazu, einen totalitären Charakter anzunehmen, da solch eine Wahrheit ihrem Wesen nach eben nicht verhandelbar ist. Besonders deutlich kam diese Form der „Wahrheitsnutzung“ in faschistischen und sowjetkommunistischen Regimen zum Tragen. Hier wie dort wurde die Herrschaft aus einer ideologisch scheinbar notwendigen „Wahrheit“ hergeleitet, sei es nun die vermeintlich naturgegebene Vormachtstellung einer „Herrenrasse“ oder die geschichtsphilosophisch vorprogrammierte „Diktatur des Proletariats“.
Nach Hannah Arendt verlässt eine solche Politik den Raum des eigentlich Politischen, nämlich den Bereich auszutarierender Meinungen und divergierender Interessen. In ihrem 1964 erschienenen Essay Wahrheit und Politik stellt sie fest, dass „innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt.“ Was bedeutet das nun aber für die Forderung der Jeder Mensch-Initiative? Natürlich geht es den Unterzeichnern bei ihrem Ruf nach einer Wahrheitspflicht nicht um eine philosophisch oder ideologisch begründete Vernunftwahrheit, sondern sie verlangen, dass die Aussagen der Amtsträger schlicht den Tatsachen entsprechen. Es geht ihnen also in aller erster Linie um Tatsachenwahrheit. Und was könnte der Demokratie dienlicher sein, als die gewählten Repräsentanten darauf zu verpflichten, Fakten anzuerkennen, anstatt sie bewusst zu leugnen?
Die Möglichkeit einer Lüge
Arendts Kritik am Wahrheitsbezug innerhalb des politischen Diskurses begrenzt sich jedoch keineswegs nur auf die Vernunftwahrheiten: „Die Schwierigkeit liegt darin, daß Tatsachenwahrheit wie alle Wahrheit einen Gültigkeitsanspruch stellt, der jede Debatte ausschließt, und die Diskussion, der Austausch und Streit der Meinungen, macht das eigentliche Wesen allen politischen Lebens aus.“ Ein politischer Diskurs ist immer der Diskurs von Interessensvertretern und in ihm herrschen gänzlich andere Kräfte als in einem philosophischen Proseminar: Statt um kollektive Wahrheitsfindung geht es um Macht und Ohnmacht. Dies bedeutet keineswegs, dass der Demagogie hier Tür und Tor geöffnet werden soll: Es bedarf der Kontrollinstanzen, angefangen bei unabhängigen Gerichten über transparente Untersuchungsausschüsse bis hin zum investigativen Journalismus. Und es ist vor allem das Scheitern derartiger Kontrollinstanzen – beziehungsweise der Verlust ihres gesellschaftlichen Rückhaltes – der zu einer Kultur der Fake-News und „alternativer Fakten“ führt, nicht die politische Lüge als solche.
Wer die Leugnung der Wahrheit als Grundrechtsverletzung begreift, der übersieht also den entscheidenden Punkt: Ein freier politischer Diskurs im Ringen um Einzelinteressen und dem Wohl der Allgemeinheit kann nur dann wahrhaft frei sein, wenn er die Möglichkeit der Unwahrheit und Lüge duldet. Zum einen schon deshalb, weil gerade im Bereich des Politischen „Wahrheiten“ stets umkämpft und oft nur vorläufig sind, sie bisweilen auch schlicht von der Perspektive abhängen. Zum anderen ist die „geistige Freiheit, das Wirkliche zu akzeptieren oder zu verwerfen, ja oder nein zu sagen“ in Arendts Worten die Grundvoraussetzung des politischen Diskurses. Ein einklagbares Recht auf Wahrheit bedrohte somit in letzter Instanz die Voraussetzungen jener freiheitlichen Grundordnung, die die Initiatoren der Jeder Mensch-Kampagne doch eigentlich zu bewahren versuchen. •
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