Hannah Arendt – Die Freiheit des Denkens
Sonderausgabe 6 - 2016Sie ist eine der großen Außenseiterinnen des 20. Jahrhunderts und eine der schärfsten Beobachterinnen ihrer Epoche. Hannah Arendts Themen sind von bleibender Aktualität: die Ursprünge politischer Gewalt, die Unbegreiflichkeit des Bösen, die Menschenrechte von politisch Verfolgten und Flüchtlingen, der Sinn der Arbeit. Arendt wieder zu lesen, heißt nicht, bloß ihren Ideen zu folgen. Sondern vielmehr auch ihrem Ideal, dem beherzten Denken „ohne Geländer“ und ohne Vorurteile. Es heißt, uns mit der Welt, in der wir leben, aktiv auseinanderzusetzen. Und um die Sache zu streiten.
Die Sonderausgabe präsentiert zentrale Motive aus Arendts Werk und interpretiert sie in Essays und Interviews, unter anderem mit Seyla Benhabib, Susan Neiman, Rahel Jaeggi, Daniel Cohn-Bendit, Bettina Stangneth, Gesine Schwan und Volker Gerhardt.
Denk-Beziehungen
Für Hannah Arendt ging Lieben und Denken zusammen, sie pflegte als Freundin ebenso wie als Liebespartnerin den leidenschaftlichen Gedankenaustausch. Von ihrer frühen Liebe Martin Heidegger, über ihren großen Mentor und Freund Karl Jaspers bis zu ihrem zweiten Ehemann und langjährigen Denk-Gefährten Heinrich Blücher. Mit Texten von Martin Legros zu Arendts Biographie, Leon Botstein über ihre Wirkung in den USA – und der Totenrede von Hans Jonas .
Flucht, Judentum, Menschenrechte
Die Erfahrung, Flüchtling und Staatenlose zu sein hat Arendt politisch nachhaltig geprägt. In „We Refugees“ beschreibt sie schonungslos, was Flucht aus Menschen macht. Stefania Maffeis schreibt die Geschichte von Hannah Arendts frühem Exil in Paris als eine Geschichte des Nachdenkens über das Außenseitertum und Seyla Benhabib setzt sich mit Arendts pointierter Kritik der Menschenrechte, die Flüchtlinge nicht schützen, auseinander.
Totalitarismus
„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ ist eine raumgreifende Geschichte des Traditionsbruches, der zu Regimen des Terrors in Europa führte. Antonia Grunenberg erklärt im Gespräch die Hintergründe von Arendts Analyse und erläutert die von ihr herausgearbeiteten totalitären Elemente, die als grundlegende Gefahren für moderne Demokratien weiterwirken können. Der Historiker Enzo Traverso skizziert die Karriere des Kampfkonzeptes Totalitarismus und reflektiert seine Anwendbarkeit auf heutige Phänomene.
Vita Activa
Was tun wir eigentlich, wenn wir tätig sind? Die Hauptfrage von „Vita activa“ führt mitten hinein in die „Conditio humana“. Wie Bérénice Levet zeigt, hat Arendt dabei als eine der ersten nicht die Sterblichkeit des Menschen, sondern seine Natalität als zentrales Faktum begriffen. Arendts Aufteilung der menschlichen Tätigkeiten in Arbeiten, Herstellen und Handeln beleuchtet Rahel Jaeggi im Gespräch mit Blick auf die heutige Frage nach dem Sinn unseres Tuns und unserer Arbeit.
Das Böse
„Eichmann in Jerusalem“, Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess 1961 ist und bleibt ihr umstrittenstes Werk: das Schlagwort von der „Banalität des Bösen“ ist oft als eine Entschuldigung der Täter aufgefasst worden. Susan Neiman erklärt im Interview, dass nicht die Täter verteidigt werden, wohl aber die Welt, in der der Holocaust passieren konnte. Die Philosophin und Historikerin Bettina Stangneth stellt klar, wie sehr sich Arendt in der Person Eichmanns getäuscht hat. Und hält trotzdem fest, wie fruchtbar Arendts Analyse des Bösen für das Nachdenken auch heute ist.
Bild: Adolf Eichman at trial in Jerusalem 1961, gemeinfrei
Politik, Macht, Öffentlichkeit
Arendts Analysen der Probleme von Demokratien sind aktueller denn je. Der amerikanische Philosoph Roger Berkowitz analysiert mit Arendt die Krise der repräsentativen westlichen Demokratien. Daniel Cohn-Bendit erzählt, wie das politische Denken seiner Generation auch von Hannah Arendt beeinflusst wurde. Im Dialog zeigen die Politikerin und Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan und der Philosoph Volker Gerhardt auf, wie nötig wir Arendts Ideen der gemeinsamen Handlungsmacht und der öffentlichen Kommunikation gerade heute hätten.
Inhalt
INTRO
- Das Leben einer Widerständigen
Chronologie - „Man muss einen Preis für
die Freiheit zahlen“
Gespräch Hannah Arendt mit
Günter Gaus
DENK-BEZIEHUNGEN
- Heidegger der Fuchs
Hannah Arendt - Zwischen zwei Menschen entsteht eine Welt
Martin Legros - „Sie blieb immer Außenseiterin“
Gespräch mit Leon Botstein - Ein Genie der Freundschaft
Hans Jonas
FLUCHT, JUDENTUM, MENSCHENRECHTE
- Wir Flüchtlinge
Hannah Arendt - Der Standpunkt des Exils
Stefania Maffeis - Charlie Chaplin, Paria der Moderne
Hannah Arendt - Menschenrechte ohne
Nationalstaaten
Seyla Benhabib - Das Recht, Rechte zu haben
Hannah Arendt
TOTALITARISMUS
- Die globale Herrschaft von
Ideologie und Terror - Drei Formen der politischen
Unterdrückung - Am Abgrund der Moderne
Gespräch mit
Antonia Grunenberg - Auch Demokratien lügen
Hannah Arendt - Aufstieg eines Kampfbegriffs
Gespräch mit
Enzo Traverso
VITA ACTIVA
- Die Bedingtheit des Menschen
- Die Geburt als philosophische Idee
Bérénice Levet - Jeder Mensch ist ein Neuanfang
Hannah Arendt - Wie wir tätig sind
- „Jede Arbeit ist Zusammenarbeit“
Gespräch mit Rahel Jaeggi
DAS BÖSE
- Ist das Böse banal?
- Heimisch bleiben in einer Welt nach Auschwitz
Gespräch mit Susan Neiman - Eichmann, der Gedankenlose
Hannah Arendt - Radikal ist immer nur das Gute
Hannah Arendt und Gershom Scholem - Er hat alle getäuscht
Gespräch mit Bettina Stangneth - Denken bewahrt vor bösem Tun
Hannah Arendt
POLITIK, MACHT, ÖFFENTLICHKEIT
- Handeln in Freiheit
- War 68 in Arendts Sinne?
Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit - Die Ohnmacht der Demokratie
Roger Berkowitz - Nur die vielen sind mächtig
Hannah Arendt - Wir brauchen Orte für öffentlichen Streit
Dialog Gesine Schwan und Volker Gerhardt