Am Abgrund der Moderne
Hannah Arendt hat nicht nur die totalitäre Herrschaft analysiert, sondern auch die Traditionsbrüche beschrieben, die diese ermöglichte. Traditionsbrüche, die auch in Arendts eigenem Leben und Arbeiten Spuren hinterließen – und sie sehr sensibel für jegliche Gefahren in Demokratien machten. Was können wir heute noch in der Auseinandersetzung mit Arendts Arbeiten lernen? Ein Interview mit der Gründerin des Hannah Arendt-Zentrums Antonia Grunenberg.
Frau Grunenberg, Sie haben als Gründerin und langjährige Leiterin des Hannah-Arendt-Zentrums in Oldenburg sehr viel für die Rezeption von Hannah Arendt in Deutschland getan. Im Moment bereiten Sie eine Ausgabe des Nachlasses von Hannah Arendt vor. Äußerst erfreulich, aber ist es nicht erstaunlich, dass es eine solche nicht schon längst gibt?
Ja, man kann sagen, es ist spät. Zwei Gruppen arbeiten seit Jahren an der Vorbereitung dieser Ausgabe, unser Archiv umfasst ja den gesamten Nachlass, es gibt zum Teil noch Probleme mit der Finanzierung, welche die Sache verlangsamen.
Ist Hannah Arendt in gewisser Weise immer noch nicht richtig angekommen in Deutschland?
Es ist merkwürdig. Es gibt immer wieder Versuche, sie in den Kanon aufzunehmen, beispielsweise in Sammelbänden zur neuen politischen Theorie. Und es gibt öffentliche Anerkennung: Hannah Arendt wird im Bundestag zitiert, es gibt Straßen, die nach ihr benannt sind. Ein Menschenrechtsanwalt für Flüchtlinge hat sich unlängst auf ihre berühmte These berufen, wonach es „das Recht (gibt), Rechte zu haben“. In den philosophischen Seminaren aber wird sie nur höchst selten gelehrt. Von der Politikwissenschaft, die zunehmend eher statistisch orientiert ist, ganz zu schweigen. In der Soziologie ist sie nie erschienen.
Woran liegt das? Daran, dass sie – anders als andere geflohene Denker – nach 1945 nicht nach Deutschland zurückgekehrt ist?
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