Arendts Bedenken am Mehrparteiensystem
Warum spielen die etablierten Parteien in Frankreich kaum mehr eine Rolle? Weil sie nicht glaubhaft versichern können, dass sie im Interesse der Allgemeinheit handeln. Ihr Abstieg wurzelt, so Hannah Arendts These, im Mehrparteiensystem, das Bewegungen und Ideologie begünstigt und dem Etablierten misstraut.
Den etablierten Parteien Frankreichs wie die Parti socialiste oder Les Républicains droht bei der Wahl am Sonntag ein weiterer Bedeutungsverlust. Mehr oder weniger junge Bewegungen wie Marine Le Pens Rassemblement national oder Jean-Luc Mélenchons La France insoumise versprechen einen Neuanfang und können ihnen weitere Stimmen abnehmen. Schon vor 70 Jahren analysierte Hannah Arendt das kontinentaleuropäische Mehrparteiensystem als potenziell instabil und gefährlich. Laut der Philosophin haben unsere Gesellschaften die Tendenz, die alten Parteien zu schwächen, indem sie politische „Bewegungen” hervorbringen, die von charismatischen Führern verkörpert werden. Diesen Vorgang hat sie 1951 in ihrem frühen Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beschrieben.
Staats- und Privatinteresse
Darin analysiert Arendt die Widerstandsfähigkeit politischer Systeme und ihre Tendenz, Diktaturen oder Totalitarismen hervorzubringen. Sie lobt die Stabilität des angelsächsischen Zweiparteiensystems, da die beiden größeren Parteien immer bereit sind zu regieren oder die Führung der Opposition zu übernehmen, die künftig regieren wird. So verbinden sie sich auf natürliche Weise mit dem Staat und den nationalen Interessen. „In dem angelsächsischen System sind die reinen Interessen sehr viel mehr innerhalb der Parteien selbst vertreten, wo sie sich in innerparteilichen Kämpfen Ausdruck verschaffen und die rechten und linken Flügel der Partei bilden.”
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Bitte nicht wörtlich nehmen
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Erinnern Sie sich noch an Reem? Reem Sahwil ist das palästinensische Mädchen, dem Bundeskanzlerin Merkel vor knapp einem Jahr im Rahmen eines Bürgerdialogs erklärte, dass seine aus dem Libanon eingereiste Familie kein Bleiberecht in Deutschland erhalten werde, da der Libanon keine Kriegszone sei und Deutschland aus den dortigen Lagern schlicht nicht alle Menschen aufnehmen könne. Noch während Merkel ihre Begründung ausführte, fing Reem bitterlich zu weinen an. Die Kanzlerin stockte, ging darauf in einer Art Übersprunghandlung auf das im Publikum sitzende Mädchen zu und begann es zu streicheln, weil, wie Merkel, noch immer mit dem Mikro in der Hand, erklärte, „weil ich, weil wir euch ja nicht in solche Situationen bringen wollen und weil du es ja auch schwer hast“.
Gefangen im Dilemma?
Erinnern Sie sich noch an Reem? Reem Sahwil ist das palästinensische Mädchen, dem Bundeskanzlerin Merkel vor knapp einem Jahr im Rahmen eines Bürgerdialogs erklärte, dass seine aus dem Libanon eingereiste Familie kein Bleiberecht in Deutschland erhalten werde, da der Libanon keine Kriegszone sei und Deutschland aus den dortigen Lagern schlicht nicht alle Menschen aufnehmen könne. Noch während Merkel ihre Begründung ausführte, fing Reem bitterlich zu weinen an. Die Kanzlerin stockte, ging darauf in einer Art Übersprunghandlung auf das im Publikum sitzende Mädchen zu und begann es zu streicheln, weil, wie Merkel, noch immer mit dem Mikro in der Hand, erklärte, „weil ich, weil wir euch ja nicht in solche Situationen bringen wollen und weil du es ja auch schwer hast“.

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