Eher orientierungslos als links – wohin driftet die kritische Theorie?
Die kritische Theorie war politisch nie einheitlich: Einst marxistisch engagiert, lehnten Adorno und Horkheimer später blinden Aktivismus ab. Frederik R. Heinz deutet den Wahlaufruf heutiger Vertreter, anders als unser Redakteur Moritz Rudolph, nicht als Linkswende, sondern als Zeichen von Orientierungslosigkeit. Eine Replik.
Altbekannt ist der Ruf der kritischen Theorie, sich in den Elfenbeinturm zurückgezogen zu haben. Umso erstaunlicher schienen manchen die Unterschriften zahlreicher „kritischer Theoretiker“ unter dem Wahlaufruf der Initiative Wissenschaft wählt Die Linke! War nicht gerade die Parteilosigkeit, das freie und undogmatische Denken, ein Wesensmerkmal der Frankfurter Schule? Moritz Rudolph sieht in den Unterzeichnern gar „Linksabweichler”, über deren eindeutige Positionierung „sich Adorno und Horkheimer verwundert die Augen gerieben hätten”. Erleben wir einen Linksrutsch in der kritischen Theorie?
Kritische Theorie zwischen Universität und Straße
Das Verhältnis der kritischen Theorie zur Politik, von Theorie und Praxis, war schon immer ein kompliziertes – und wird von heutigen Vertretern durchaus unterschiedlich interpretiert. Wie überraschend ist etwa die Unterschrift von Daniel Loick, der zuletzt die Aktivismus-Ikone Angela Davis als wichtigste Vertreterin der kritischen Theorie auserkor? Bei Loick laufen Aktivismus und Theorie Hand in Hand, anders als bei Christoph Menke, der in den Abschlusskapiteln seiner Bücher stets betont, für die Überführung seiner Kritik in handfeste Politik nicht zuständig zu sein.
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Weitere Artikel
Parteinahme im Angesicht der Ohnmacht
Viele Kritische Theoretikerinnen und Theoretiker bekennen sich zur Linkspartei. Ist das eine Linkswende? Ein Zeichen von Orientierungslosigkeit? Nein, es geschieht aus Ohnmacht. Teil drei unserer Debatte über Kritische Theorie und Praxisdurst.

Die Linkswende der Kritischen Theorie
Führende Köpfe der Kritischen Theorie rufen im Rahmen der Initiative Wissenschaft wählt Die Linke! zu einem entsprechenden Votum auf. Das ist erstaunlich, bedenkt man Adornos und Horkheimers Skepsis gegenüber solchen Parteinahmen.

Der fehlende Teil. Karl Heinz Haag zum Geburtstag
Karl Heinz Haag, der heute 98 Jahre alt geworden wäre, galt einmal als philosophischer Nachfolger Horkheimers und Adornos. Doch dann verschwand er von der Bildfläche. Seine Schriften greifen einen metaphysischen Strang der Kritischen Theorie auf, der heute vergessen, aber vielleicht aktueller denn je ist.

Wer sind "Wir"?
Als Angela Merkel den Satz „Wir schaffen das!“ aussprach, tat sie dies, um die Deutschen zu einer anpackenden Willkommenskultur zu motivieren. Aber mit der Ankunft von einer Million Menschen aus einem anderen Kulturkreis stellt sich auch eine für Deutschland besonders heikle Frage: Wer sind wir eigentlich? Und vor allem: Wer wollen wir sein? Hört man genau hin, zeigt sich das kleine Wörtchen „wir“ als eine Art Monade, in der sich zentrale Motive zukünftigen Handelns spiegeln. Wir, die geistigen Kinder Kants, Goethes und Humboldts. Wir, die historisch tragisch verspätete Nation. Wir, das Tätervolk des Nationalsozialismus. Wir, die Wiedervereinigten einer friedlichen Revolution. Wir, die europäische Nation? Wo liegt der Kern künftiger Selbstbeschreibung und damit auch der Kern eines Integrationsideals? Taugt der Fundus deutscher Geschichte für eine robuste, reibungsfähige Leitkultur? Oder legt er nicht viel eher einen multikulturellen Ansatz nahe? Offene Fragen, die wir alle gemeinsam zu beantworten haben. Nur das eigentliche Ziel der Anstrengung lässt sich bereits klar benennen. Worin anders könnte es liegen, als dass mit diesem „wir“ dereinst auch ganz selbstverständlich „die anderen“ mitgemeint wären, und dieses kleine Wort also selbst im Munde führen wollten. Mit Impulsen von Gunter Gebauer, Tilman Borsche, Heinz Wismann, Barbara Vinken, Hans Ulrich Gumbrecht, Heinz Bude, Michael Hampe, Julian Nida-Rümelin, Paolo Flores d’Arcais.
Eine Spengler-Lektüre macht noch keinen Faschisten
Oswald Spengler war ein Reaktionär und Misanthrop – aber auch ein großer Geschichtsphilosoph mit feinem Gespür für das Illiberale am Liberalismus. Eine Replik auf Thomas Assheuer von Moritz Rudolph, Redakteur des Philosophie Magazins.

Nancy Fraser: „Wir brauchen einen besseren Populismus“
Nancy Fraser, eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart, erzählt, wie sie Kritische Theorie mit Feminismus verbindet und wie kritische Gesellschaftsanalyse heute mit Aktivismus zusammengehen kann. Und warum progressive Strömungen nicht isoliert voneinander funktionieren können.

Europawahl – Die EU kommt zu sich
Die Ergebnisse der Europawahl deuten viele als Rechtsrutsch. Das ist zu kurz geblickt, meint Moritz Rudolph, da es ein linksliberales Europa in Wirklichkeit nie gab. Vielmehr kehrt Europa gerade zu seinen rechten Wurzeln zurück.

Imperialer Phantomschmerz
Wenn Herrschaft verlorengeht, der Verfügungsanspruch aber bleibt, entsteht imperialer Phantomschmerz. Nicht nur der Kreml macht damit Politik. Ein Impuls unseres Redakteurs Moritz Rudolph.
