Liya Yu: „Toleranz fällt unseren Gehirnen schwer“
Das ethische Toleranzgebot stößt auf neuronale Hürden, behauptet die Politikwissenschaftlerin Liya Yu. Ein Gespräch über die evolutionäre Herausforderung liberaler Gehirne, kognitive Dehumanisierung und Neuro-Hobbesianismus.
Frau Yu, in Ihrem Buch „Verletzliche Gehirne – Die Neuropolitik gespaltener Gesellschaften“ argumentieren Sie, dass wir unsere Gehirne besser verstehen müssten, um gesellschaftliche Gräben zu überwinden. Welche meinen Sie damit?
Ich beobachte einen Zusammenbruch des liberalen, demokratischen Gesellschaftsvertrags in Europa und den USA. Wir haben keine gemeinsame Sprache mehr, mit der wir uns die Realität gemeinsam erschließen können. Und ich sehe einen Zusammenbruch von erfolgreichen Strategien, mit denen wir andersdenkende Menschen von unserem eigenen Standpunkt überzeugen können. Viele haben sich vom Erfolg der populistischen Bewegungen und dem Rechtsruck überrascht gezeigt. Wenn wir verstehen, wie unsere menschlichen Gehirne eigentlich funktionieren, sind diese Entwicklungen jedoch keine Überraschung.
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