Muss Protest dialogbereit sein?
Die Studentenproteste gegen den Krieg in Gaza sind in Deutschland angekommen. In Berlin und Leipzig wurden am Dienstag Hörsäle von der Polizei geräumt. Der Vorwurf: Die Demonstranten seien nicht auf Verständigung aus. Unser Autor, selbst Student an der Uni Leipzig, fragt sich: Muss Protest immer dialogbereit sein?
Seit Wochen wird an mehreren Universitäten in den USA gegen den Krieg in Gaza, das Vorgehen der israelischen Streitkräfte und deren Unterstützung durch die US-Regierung protestiert. Ausgangspunkt und Zentrum der Bewegung ist die Columbia University in New York. Trotz einiger antisemitischer oder gewaltvoller Vorfälle zeigt sich die Mehrheit der Demonstranten friedlich. So besuchen etwa jüdische Professoren die Camps und diskutieren mit den Studenten. Nachdem die israelische Regierung Anfang dieser Woche die von Ägypten und Katar mit der Terrororganisation Hamas ausgehandelte Waffenruhe abgelehnt hat, und stattdessen eine großangelegte Offensive auf die im Gazastreifen gelegene Stadt Rafah ankündigte, brachen nun auch an mehreren Universitäten in Deutschland Proteste aus. So etwa in Berlin und Leipzig, wo Zelte auf dem Campus errichtet und Hörsäle besetzt wurden.
Die Besetzung von Hörsälen ist an sich keine Neuheit. Allein in Leipzig wurde das Audimax in den letzten Jahren mehrfach von Klimaaktivisten besetzt — teils für mehrere Tage. Am Dienstag hingegen wurde das Audimax nach wenigen Stunden geräumt. Der Vorwurf lautet, die Studenten würden sich nicht dialogbereit zeigen. In einer Rundmail schrieb die Rektorin der Universität Leipzig, Inés Obergfell: „Proteste und Demonstrationen sind grundsätzlich legitim, solange sie das Ziel der Information und Verständigung verfolgen.“
Die Störung als Ziel
Aber muss Protest in einer Demokratie immer dialogbereit sein? Oder genauer gefragt: Muss er in dem Sinne bereit sein, sich in einen Dialog zu begeben, dass die aktuelle Form des Protestes — eine Besetzung, ein Camp etc. — aufgegeben wird und sich stattdessen (theoretischer Stichwortgeber: Jürgen Habermas) mit dem Rektorat bei Kaffee und Kuchen in einem Konferenzraum getroffen wird, um einen Konsens zu erzielen? Natürlich: eine Demokratie lebt von Diskurs und Dialog. Aber was die Studenten hier betreiben, ist Diskurs. Sie stellen sich in die Mitte der Öffentlichkeit und starten einen Dialog — mit den ihnen als Demonstranten eigenen — und auch explizit vom Grundgesetz geschützten — Mitteln: Forderungen, Schilder, Sprechchöre.
Die Protestierenden folgen so einem Begriff von politischem Dialog, in dem (theoretische Stichwortgeberin hier: Chantal Mouffe) ein gewisser Grad von Agonismus und Konfrontation seinen Platz hat. Tatsächlich ist eine Störung des Normalbetriebs, ob auf der Straße oder an der Universität, in Deutschland kein Grund, einen Protest aufzulösen. Die Störung ist gerade der Sinn und das Ziel eines Protestes, der auch genau in dieser Hinsicht gesetzlich geschützt ist. Das hat in einem Rechtsstaat gute Gründe. Wer dies nicht als Dialog erkennt, zeigt sein eigenes Demokratiedefizit.
Dialogbereitschaft hat zwei Seiten
Hinzu kommt, dass nicht irgendwo protestiert wird, sondern im geschützten und immer auch politischen Rahmen der Universität. Genau dies betont auch ein offener Brief von Lehrenden an den Universitäten Berlins, unterzeichnet unter anderem von Naika Foroutan, Rahel Jaeggi, Eva von Redecker und Oliver Nachtwey: „Die Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind grundlegende demokratische Rechte, die auch und gerade an Universitäten zu schützen sind. Angesichts der angekündigten Bombardierung Rafahs und der Verschärfung der humanitären Krise in Gaza sollte die Dringlichkeit des Anliegens der Protestierenden auch für jene nachvollziehbar sein, die nicht alle konkrete Forderungen teilen oder die gewählte Aktionsform für nicht geeignet halten.”
Die Frage, wie mit solchen Demonstrationen von Seiten der Universitätsverwaltung umzugehen ist, ist durchaus schwierig — aber nicht neu. Bereits Hannah Arendt, für die Protest und ziviler Widerstand ein Kernbestandteil des Politischen sind, äußerte sich dazu im Kontext der Studentenproteste 1968, deren Zentrum ebenfalls die Columbia University war. Die Eskalation beginne, so Arendt, nicht mit dem Protest oder den Besetzungen von Hörsälen, sondern umgekehrt, mit dem von der Verwaltung herbeigeführten Eingriff der Polizei gegen die Studenten. Nachdem genau dies im April 1968 geschah, bezeichnete Arendt das Vorgehen der Universitätsleitung als „besonders entsetzlich“. Dialogbereitschaft muss also umgekehrt mit Hannah Arendt heißen, nicht die Polizei gegen die eigenen Studenten einzuschalten, sobald diese die ihnen als Demonstranten eigene Dialogform des Protestes nutzen. •
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Zur Person
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Kommentare
ZU: Johan Wientgen, Muss Protest dialogbereit sein?
“Protest” - hier handelt es sich nicht um Kleinkinder, die mit dem Fuß aufstampfen. Es sind Studenten, die in der Lage sein sollten, ihr Verständnis von Protest zu reflektieren. Gemäß der Titelfrage des Autors geht es um deren Dialogbereitschaft bzw. ob Protest überhaupt an Dialog gebunden sei, wenn doch Plakate und Schriftbänder den Protestanspruch signalisieren: “Die Störung ist gerade der Sinn und das Ziel eines Protestes”(Zitat). Fertig! Aus?
Auch wenn es bloß die Absicht des Protestes ist, Wut und Zorn wg. eigener Überzeugungen freien Lauf zu lassen, so öffnen diese Studenten mit ihrem Protest - gewollt oder nicht - einen Horizont von Fragen und Gefühlen, der weit über den 7. Oktober hinausgeht. Wenn sich die Protagonisten des Protests jetzt kommunikativ verweigern, verweigern sie sich einer gemeinsamen Aktualisierung von Sinn mit der durch den Protest angesprochenen bzw. abgestoßenen Öffentlichkeit. Erschöpft sich ihr Protest dann nicht in der (allein) von ihnen geteilten woken Ideologie des Postkolonialismus? Die Analogie zu den 68er - Protesten tut sich auf, die auf Varianten des Marxismus - Leninismus basierten. Was verstand die breite Öffentlichkeit damals (und heute) von ML? Was versteht die breite Öffentlichkeit heute von Postkolonialismus und den Pro Palästina - Bekenntnissen?