Rainer Erlinger: „Echte Freundschaft geht über das achte Gebot hinaus“
Sollte ich zu meinen Freunden immer ehrlich sein? Unbedingt, meint der Autor, Jurist und Arzt Rainer Erlinger. Mehr noch: Echte Freundschaften verlangen Aufrichtigkeit. Stellt sich diese nicht von selbst ein, ist die Verbindung nicht so tief wie gedacht.
Von Blaise Pascal stammt das Zitat: „Wenn alle Menschen wüssten, was sie voneinander sagen, gäbe es keine vier Freunde auf der Welt.“ Stimmt das? Sind Ehrlichkeit und Wahrheit Freundschaftskiller?
Im Gegenteil! Unehrlichkeit ist bei der Anbahnung von Freundschaften ein Hindernis und in bestehenden Freundschaften ein essenzielles Problem. Ich kann mir keine echte Freundschaft vorstellen, die ohne Offenheit und Ehrlichkeit auskommt, weil es genau diese Qualitäten sind, die man in den meisten anderen zwischenmenschlichen Interaktionen in dieser Reinheit nicht bekommen kann. Offene Kritik ist besonders wertvoll, weil sie auf verbesserungswürdige Aspekte hinweist. So verstanden, sieht man auch direkt, warum Ehrlichkeit kein Freundschaftskiller ist: In einer echten Freundschaft ist Kritik nie herabsetzend gemeint, was auch beide wissen. Sie dient im Gegenteil dazu, dem Freund etwas Gutes zu tun, und dessen kann man sich absolut sicher sein. Eine weitere Facette der ehrlichen Freundschaft ist da gegeben, wo Freunde uns unangenehme Informationen mitteilen. Auch hier wird schnell klar, warum es in Freundschaften nicht ohne geht. Hält man nämlich zentrale Informationen zurück, erhebt man sich über den Freund und meint, besser zu wissen, was er erfahren soll, als dieser selbst. Das ist aber keine Freundschaft, sondern Paternalismus. So entsteht eine Asymmetrie, die der Wechselseitigkeit als wichtigem Merkmal einer Freundschaft widerspricht.
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

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