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Bild: © Marina Weigl

Impulse

Was wirklich zählt

Robert Pfaller veröffentlicht am 01 Dezember 2019 15 min

Was sagen führende Denkerinnen und Denker auf die Frage, wofür es sich zu leben lohnt?

 

Robert Pfaller: „Wir dürfen das gute Leben nicht dem nackten Leben opfern“

 

Die Erhaltung des Lebens ist eine Anstrengung, durch die wir das gute Leben leicht ruinieren, warnt der Professor für Philosophie und Kulturtheorie (Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz).

Das Leben muss verdienen, ein Leben genannt zu werden. Diese Unterscheidung zwischen dem nackten Leben als Tatbestand und dem guten Leben – als dem, was ein Leben seiner eigenen Norm nach sein soll – spielt eine zentrale Rolle in der „Politik“ des Aristoteles. Daraus folgt dort die Unterscheidung zwischen „schrankenlosen“, instrumentellen Aufgaben und den „beschränkten“, auf die Zwecke zielenden Bestrebungen. Die Erhaltung des bloßen Lebens ist eine Aufgabe ohne Ende: Die Heilkunst geht auf „Gesundheit ohne Schranke“, ähnlich wie die Kunst des Gelderwerbs, die auf Reichtum ohne Ende abzielt. Hingegen besitzt die Aufgabe der Haushaltungskunst eine Schranke: Sie dient der Erhaltung des Haushalts, und nicht dem unbegrenzten Gelderwerb. Ebenso gibt es eine Staatsund Lebenskunst, die eine Schranke in der Herstellung und Erhaltung des guten Lebens hat. Verfolgt man nur die Erhaltung des nackten Lebens, so kann man sich dadurch das gute Leben ruinieren – indem man es panisch der verabsolutierten, schrankenlosen Gesundheit oder der schrankenlosen Sparsamkeit, Sicherheit oder Nachhaltigkeit opfert. Der Fehler der Anhänger dieser Denkweise liegt, wie Aristoteles bemerkt, darin, „dass sie leben wollen und sich um ein gutes Leben nicht bekümmern. Und da nun dieses Verlangen keine Schranken hat, so verlangen sie auch nach unbeschränkten Mitteln, um es befriedigen zu können.“ Um ein gutes Leben gewinnen zu können, muss man manchmal sogar bereit sein, das nackte Leben aufs Spiel zu setzen. Man muss schlechtes Leben mehr fürchten als den Tod.

 

Miriam Meckel: „In der Vergänglichkeit liegt das Glück der Existenz“

 

Endlich zu sein heißt, nicht alles in der Hand zu haben. In diesem unverfügbaren Rest wohnt, wonach wir suchen, sagt die Professorin für Kommunikationsmanagement (Universität St. Gallen).

Das Leben liegt immer mittendrin. In der Dehnungsfuge zwischen den vermeintlichen Gewissheiten, die wir glauben beeinflussen zu können, und der Ungewissheit der Unvollendung, die da irgendwo tief im Dunkeln ist. Mal ist der Spalt sehr klein, man kann locker über ihn hin und her wandern. Mal weitet er sich, entwickelt eine unwiderstehliche Anziehung. Dann wird es interessant. Zu leben lohnt es sich für den „Unterschied, der einen Unterschied macht“, eine Formulierung, die der Kybernetiker Gregory Bateson geprägt hat. Leben gibt es nur als Existenz in der Differenz: Tag und Nacht, Frühling und Herbst, Glück und Unglück, Liebe und Hass. Jede Erfahrung existiert irgendwo an der Grenze zu ihrem Gegenteil. Wäre das anders, wir würden in der Lethargie unendlicher Möglichkeiten implodieren. So unbegreiflich das klingt: In der Komplexität der Vergänglichkeit liegt also das Glück menschlicher Existenz versteckt. Sein Leben im Wahn um Vollendung zu führen, hält einen beschäftigt. Leben aber heißt, sich bewusst an die Dehnungsfuge der Kontingenz heranzuwagen. Manchmal kann man dort, und nur dort, der Liebe begegnen. Wer fugenlos lebt, bleibt vielleicht ohne existenzielle Enttäuschung. Aber das ist nicht Leben, sondern Langeweile. Wir leben in kategorischer Unsicherheit. Es lohnt sich, das täglich zu spüren.

 

Bernhard Waldenfels: „Der fremde Anspruch bewirkt ein Ja zum Leben“

 

Der Hilferuf eines anderen ist es, der die Gleichgültigkeit durchbricht, meint der emeritierte Professor für Philosophie an der Universität Bochum.

Wofür lohnt es sich zu leben? Dieser Frage nähere ich mich durch eine Szene aus Dostojewskis Erzählung Der Traum eines lächerlichen Menschen von 1877. Dieser Mensch entdeckt mit einem Male, dass ihm alles gleichgültig und wertlos geworden ist. Die Eingangsfrage verschärft sich zu der Frage: „Lohnt es sich überhaupt zu leben?“ Der Lebensmüde kauft einen Revolver. Doch wozu sich die Mühe machen, sich umzubringen? Es kommt der Augenblick, wo ihm der Todesschuss nicht mehr gleichgültig ist. Auf nächtlicher Straße begegnet ihm ein Mädchen in „nassen zerrissenen Schuhen“. Diesem Mädchen ist keineswegs alles gleich, mit dem Ruf „Mamachen! Mamachen!“ fleht es um Hilfe. Zunächst verscheucht unser Held die Bittende wie ein lästiges Insekt – doch dann kommt die Wende, das Mädchen wird zum Rettungsengel. Wie sich zeigt, ist die Indifferenz keine vollendete, keine schiere Unempfindlichkeit. Sie wird durchbrochen durch eine unwiderstehliche Schmerzempfindung, die als Mitleid auf andere übergreift. Die Geschichte endet mit einer praktischen Konsequenz: „Jenes kleine Mädchen habe ich gefunden … Ich werde hingehen! Werde hingehen!“ Bemerkenswert ist, dass die Wende nicht durch einen moralischen Willensakt herbeigeführt wird und auch nicht durch ein Kalkül. Die Antwort auf den fremden Anspruch besteht in einem Ja des Lebens und Mitlebens, das laut Nietzsche der Bewertung des Lebens vorausgeht. Der Funke entzündet sich im Durchbrechen der Gleichgültigkeit.

 

Slavoj Žižek: „Das Lohnende liegt in der Lücke zwischen Erotik und revolutionärem Engagement“

 

Eine Liebe ist nur dann absolut, wenn sie bereit ist, sich für Höheres zu opfern, sagt der Professor für Philosophie (Universität Ljubljana).

Zwei Antworten: ein (wissenschaftliches, politisches, künstlerisches …) Anliegen, für das ich einstehe, und intensive erotische Liebe. Das Problem ist, dass die Beziehung zwischen beiden paradox ist. Um die Liebe einer Frau zu gewinnen, muss ich (aus meiner männlichen Perspektive) beweisen, dass ich auch ohne sie überleben kann, dass dieses Anliegen wichtiger ist als sie. Deshalb lautet die Botschaft der wahren Liebe: Selbst wenn du mir alles bedeutest, bin ich bereit, dich für meine Mission im Stich zu lassen. Die angemessene Weise für eine Frau, die Liebe ihres Mannes zu testen, besteht deshalb darin, ihn am entscheidenden Punkt seiner Karriere zu „betrügen“ – nur wenn er das Leid durchsteht und seine Aufgabe erfolgreich erledigt, obwohl er durch den Verlust tief traumatisiert ist, hat er sie verdient und sie wird zurückkehren. Das Paradox besteht also darin, dass die Liebe, verstanden als das Absolute, nicht als direktes Ziel postuliert werden sollte. Deshalb gibt es keine größere Liebe als die eines revolutionären Paares, bei dem beide bereit sind, den anderen sofort zu verlassen, sobald die Revolution es verlangt. Was wir von den bolschewistischen Revolutionären wissen, ist, dass dort eine neue Form des Liebespaars entstand: ein Paar, das im permanenten Ausnahmezustand lebt; in voller Hingabe für die Revolution; bereit sein, den Partner zu opfern, wenn die Revolution es verlangt; aber sich auch gegenseitig völlig hingeben und rare Momente größter Intensität miteinander genießen. Spuren davon finden sich in Lenins Beziehung zu Inessa Armand: Hier zeigt sich die radikale Disjunktion zwischen sexueller Leidenschaft und sozialrevolutionärem Engagement. Beide Dimensionen sind vollkommen unterschiedlich, unvereinbar und irreduzibel – aber es ist die Anerkennung der Lücke zwischen beiden, für dies es sich zu leben lohnt.

 

Barbara Vinken: „Das Zu-Fallen des Lebens ist zu preisen“

 

Die Schönheit des geschenkten Lebens empfinden zu können: Darum geht es, behauptet die Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie (LMU München).

Zu leben „lohnt“ sich nicht. Aber nicht, weil man sich besser gleich umbrächte, sondern weil die Frage nach dem „Lohnen“ das Leben grundsätzlich verfehlt. Leben, zu leben, ist ein Geschenk. Es widerfährt einem, zum Glück. Man hat es sich nicht ausgesucht, und man hat damit, dass man lebt, nichts zu tun. In die Welt wird man in Todesangst und Todesgefahr, in Blut, Schweiß und Tränen geworfen, um früher oder später, mit mehr oder weniger Schmerzen zu sterben. Leben ist eine Kunst zum Tode. Unser Leben entzieht sich der Selbstverantwortung, der Selbstbestimmtheit. Vor allen Dingen entzieht es sich aber dem Kosten-Nutzen-Kalkül und dem „Es lohnt sich“-Prinzip. Mein, dein Leben ist ein glücklicher Zu-Fall, der allerglücklichste Zufall. Auf der Welt sind wir grundlos, und dieses uns Zufallen des Lebens ist nicht als Qual abzulehnen, sondern anzunehmen, zu loben und zu preisen. Sicher ohne Lohn. Glück ist, im Angesicht dieser größten narzisstischen Kränkung, welche der Tod ist, nicht zu verbittern, sondern umso andächtiger angesichts der Schönheit der Welt zu werden und unsere Nächsten – unter Tränen um der Zerbrechlichkeit dieses Glückes willen – anzulächeln. Dankbar, erfüllt für jeden Moment, der geschenkt ist. Denn das Leben haben wir uns nicht verdient. Geleistet haben wir nichts dafür, dass die Sonne aufgeht, das Wasser glitzert, die Früchte reifen. Dass wir vielleicht selbst ein Kind zur Welt bringen und dieses Kind, so gut es geht – hoffentlich müssen wir es nicht begraben –, lieben, groß und glücklich machen dürfen. Hoffen können wir nur auf das Glück, die Schönheit empfangen zu können. Ein Geschenk, unbegreiflich, schön.

 

Bini Adamczak: „Wer sagt, dass sich das Leben überhaupt lohnt?“

 

Wir wissen schlicht nicht, ob der Tod letztlich besser wäre, gibt die Autorin und Künstlerin zu bedenken.

Wofür es sich zu leben lohnt – der Satz unterstellt, im Indikativ, ganz ohne „wenn und würde“, die Antwort auf eine nicht gestellte Frage: Dass es sich überhaupt lohnt. Wer sagt das? Unter welchen Bedingungen? Für wen und unter Ausschluss von wem? Lohnt zu leben denn mehr, als … nicht zu leben? Geboren zu werden mehr, als ungeboren zu bleiben? Schuften ohne Rente oder ein letzter lauter Knall? Müsste, wer das mit gutem Grund behaupten will, nicht schon mal tot gewesen sein? Es handelte sich also um eine Frage für Zombies, Vampire, Wiedergeborene. Oder für uns alle, die wir vor der Geburt fast eine Ewigkeit nicht existierten. Nur, dass wir uns so schlecht daran erinnern. Wie auch, angenommen der Tod wäre schlicht nicht – nichts. Bezieht die Frage ihren Maßstab dann nicht gegenüber dem Tod, sondern aus dem Leben selbst? Es wäre dann eine ökonomische Frage, eine Frage der Zählung, der Bilanz. Sie unterstellte, dass das Leben lohnt, wenn die „guten“ Momente die „schlechten“ überwiegen. Lohnt der Rausch den Kater? Der Liebeswahn den Liebeskummer? Und wenn nicht? Vor allem: Was heißt hier eigentlich „Lohn“? Ist Leben Arbeit fürs Kapital, die bezahlt werden will? Womit? Wofür? Dafür, geboren worden zu sein? Wohl kaum. Fürs Durchhalten dann? Gratulieren wir uns deswegen zu Geburtstagen – nicht dafür, dass wir gekommen, sondern dass wir geblieben sind? Dass wir es hier ausgehalten haben? Ein paar Bücher, Blumen, einen Gutschein, Schnaps. Ein weiteres Jahr, herzlichen Glückwunsch, hurra! Sind dafür die Geschenke da? Seriously, muss sich leben wirklich lohnen – rentieren gar?

 

Markus Gabriel: „Das Leben lohnt sich, weil wir es lebenswerter machen können“

 

Der Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit (Bonn) meint: Menschliches Leben genügt sich nicht selbst, sondern strebt nach ethischer Verbesserung.

Es ist eine alte Einsicht der Philosophie, sofern sie sich seit ihrer Gründungsgeste von der Sophistik unterscheidet, dass sich das Leben lohnt, weil wir es angesichts ethischer Standards, das heißt im Hinblick auf das Gute verbessern können. Der Sinn des Lebens liegt im Leben selbst. Doch das bedeutet nicht, dass das schiere Überleben unter allen Bedingungen etwas wäre, wofür es sich zu leben lohnt. Es gibt vielmehr für geistige Lebewesen objektive Standards eines gelingenden Lebens, die wir paradigmatisch in der Form moralischer Urteile zum Ausdruck bringen. Moralische Urteile schreiben, anders als man meinen könnte, nicht ein für alle Mal fest, was wir tun sollen, sondern beziehen sich auf spezifische Umstände menschlichen Tuns. Doch das mindert weder ihren Wert noch ihre Universalität, wie man glauben könnte. Das Leben lohnt sich unter anderem deswegen, weil wir die Chance haben, an moralischem Fortschritt mitzuarbeiten, eine Aufgabe, die durch ideologische Verblendung massiv erschwert wird. Für Philosoph*innen bedeutet dies, dass sich das philosophische Leben lohnt, weil wir dazu beitragen können, dass denjenigen, die nicht das sozioökonomisch fragile Privileg haben, unsere Frage systematisch zu beantworten (weil sie auf ihr pures Überleben reduziert werden), geholfen wird. Unsere Aufgabe als Philosoph*innen besteht darin, dem Ausmaß der Verblendung entgegenzuwirken. Kurzum: Das Leben lohnt sich, weil wir es lebenswerter machen können.

 

Dieter Thomä: „Das Dasein bis an seine bitter-süßen Grenzen genießen“

 

Wir haben nur dieses eine Leben, wer auf Höheres spekuliert, lässt es ins Nichts laufen, so der Professor für Philosophie (St. Gallen).

Als Schüler bekam ich eines Tages ein Paket, das zwölf dicke Bände mit dem Nachdruck der Zeitschrift Die Fackel enthielt. Ich versank in Karl Kraus’ Welt des Hasses, der Lust und der Lust am Hass – und tauchte aus der Versenkung wieder auf mit einem Satz, der mich seither als geistiges Gepäck begleitet: „Das Leben ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre.“ Dieser Satz klingt ziemlich ernüchternd, aber ich erinnere mich, dass er mich damals zum Lachen brachte. Er ist ein Musterbeispiel für schwarzen Humor, also für eine Komik, die nach Immanuel Kant der „plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“ entspringt. Hier klagt jemand über ein Leben, das nichts tauge, das kurz und beschissen sei wie eine Hühnerleiter, und spekuliert gewollt pompös auf etwas ganz Feines und Großartiges. Dabei ist klar, dass diese „Erwartung“ in der Tat zu „nichts“ führt. Zum Leben gibt es keine Alternative. Wenn wir es für etwas vermeintlich Besseres dreingäben, wäre es mit uns vorbei. Uns gibt es nur in einer Version: mit diesem einen, einzigartigen Leben. Die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, geht am Leben vorbei, denn sie legt nahe, dass der Lohn für alle Mühe jenseits des Lebens liege, in irgendeinem höheren Ziel. Am Ende von Kraus’ Gedankenspiel steht nicht der Frust, sondern die Leidenschaft. Es ist das Höchste, uns in dem Leben, welches wir nun mal haben, zu bewähren, es bis an seine bittersüßen Grenzen auszuleben und zu genießen. Es ist unser Leibgericht.

 

Eva von Redecker: „Die erfüllten Momente zu Bausteinen einer besseren Welt machen“

 

Glücksomente gilt es nicht zu umzäunen, sondern zu teilen, fordert die promovierte Philosophin und Publizistin.

Ich bin versucht, eine lange Liste zu notieren. Es gibt so vieles, das sich nur als lebendiger Körper genießen lässt, für den die Zeit unweigerlich in eine Richtung fließt. Anfangen würde ich mit dem Salzwasser, aus dem wir kommen, und dann immer mehr aufzählen. Aber mit der Sprache, die wir Menschentiere haben, lässt sich mehr tun als lobende Benennung. Ich misstraue der Frage. Sie fragt nach dem Leben, aber sie verrät doch die Logik des Lebensopfers: „Wofür es sich zu sterben lohnt …“ Noch meine Urgroßväter starben in Duellen. Die Gründe waren miserabel: „Ehre“, verstanden als patriarchale Anmaßung; „Vaterland“, als chauvinistische Zwangsgemeinschaft. Die nüchterne kapitalistische Gegenwart dagegen lässt viele namenlos umkommen, aber ermutigt nicht ausdrücklich zu Todesopfern. Die lohnen sich nicht. Unsere Vorstellungen vom Sinn kleben aber weiterhin am großen

Kraftakt für einzelne Ziele. Als ob ein Leben nach dem Muster überdimensionierter Neujahrsvorsätze sinnvoll wäre. Es lohnte sich selbst dann nicht, wenn dabei nicht nebenbei der Planet verwüstet würde. Tatsächlich haben wir ein gutes Gespür für erfüllte Momente. Die Frage ist eher, ob wir bereit sind für das Wagnis, sie zu Bausteinen einer anderen Welt zu machen. Anstatt Glücksmomente umzäunen und verteidigen zu wollen, könnten wir sie ausweiten und teilen. „Lohnendes Leben“ ist ein falscher Begriff dafür. Eher: freies, erfülltes und bewahrtes Leben. Eines Tages wird die Frage nach dem „Wofür des Lebens“ so antiquiert sein wie die nach dem „Wofür des Sterbens“. Ohne diese Hoffnung wäre ich lieber ein Salzwasserfisch – wenn denen nicht gerade der Sauerstoff ausginge.

 

Bernd Stegemann: „In der Offenheit der Zukunft liegt der Lebensgrund“

 

Die Ungewissheit, ob der Mensch den Klimawandel übersteht, zieht uns nach vorn, sagt der Dramaturg am Berliner Ensemble und Autor.

Wer fragt, wofür es sich zu leben lohnt, hofft auch auf eine Antwort darauf, wofür es sich zu sterben lohnt. In früheren Zeiten hatten diese Antworten immer etwas mit dem Großen und Ganzen zu tun, das man auch Religion nannte. Niemand stirbt für sich allein, galt lange als trostreiche Wahrheit. Heute leben und sterben viele für sich allein. Der einsame Tod ist wohl das traurigste Symbol für die religiöse Unmusikalität unserer Zeit, in der die nietzscheanischen Gottesmörder ihre Bindungslosigkeit als gelungenes Leben feiern. Doch in der Epoche des Anthropozän verdichten sich die Anzeichen, dass uns allen ein gemeinsames Schicksal droht. Die milliardenhaft ressourcenverschlingenden Antworten auf die Frage nach dem Lebenslohnenden entpuppen sich als Ursache für eine kollektive Katastrophe. Wer eine Welt bewahren will, in der Menschen, Tiere und die Natur leben können, muss die Wahrheit anerkennen, dass für unsere Lebensweise Tiere sterben und Menschen leiden müssen, und dass sie dazu führt, dass es bald kein Leben mehr auf der Erde geben wird. In einer solchen Welt die Frage nach dem Lohnenden zu stellen, schrammt darum dicht am Kitsch vorbei. Denn die Selbstverzauberungen eines nachhaltigen Konsums oder einer öffentlich zelebrierten Panik sind Spielarten der Gefühle, die individuelle Erlebnisse noch inmitten einer gemeinsamen Apokalypse suchen. Gerade in diesem Abgrund aber könnte ein Funken dessen schimmern, was das Leben wirklich lohnenswert macht. Im Anthropozän kann niemand wissen, ob die Weltmenschen es schaffen, dass die Erde nicht zu einem toten Stern wird. Wenn diese Offenheit, einst auch Transzendenz genannt, kein Lebensgrund mehr ist, ist der Tod ganz nah.

 

Petra Bahr: „Der Lohn des Lebens entzieht sich der Frage: Was bringt es mir?“

 

Wer nur nach Perfektionierung strebt, verfehlt das Leben, so die Landessuperintendentin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover.

Wofür sich das Leben lohnt? Für das Leben. Mit Tautologien macht man sich natürlich verdächtig. Sie sind entweder ein Ausdruck für Denkfaulheit oder für die Flucht ins Poetische. Die Antwort, die das Christentum auf diese Frage gibt, ist noch verdächtiger. Das Leben lohnt sich, weil es „Gott die Ehre gibt“. Wenn Gott ins Leben kommt, ist das heutzutage erst recht gefährlich. Es droht Fremdbestimmung, Unterwerfung unter das Glück einer eingebildeten Instanz, ja Wahn, bestenfalls eine Auflistung moralisch lobenswerter Ziele: für die Nächsten da sein, Gutes tun, all die Missverständnisse, die sich aus der Moralisierung des Religiösen ergeben. Ich mag diese Antwort aber, weil sie auf das verweist, was sich am Leben am meisten lohnt: Dass es sich nämlich der Frage „Was bringt es mir?“ im Tiefsten entzieht. Es ist das Unkalkulierbare, seine Fülle, seine Leere – beides der Messbarkeit entzogen –, die das Leben großartig und manchmal auch furchtbar machen. „Zu Gottes Ehre“, damit meint schon die Bibel, dass Zweck und Ziel des Lebens nicht in dem Begriff des Gelingens liegen, in dem, was erreicht, erlebt, gestaltet wird. Es ist, als Gabe, „Schöpfung“ – übrigens ein religiöser Begriff und keine Sakralisierung der Natur –, was es ist. Lohnabzug gäbe es andernfalls bei all dem, was misslingt, was scheitert, was unvollendet, was hässlich bleibt. Die Utilitarisierung von Lebenssinnfragen suggeriert, dass sich am Leben nur das lohnt, was stetig verbessert wird, und sei es durch das „Genieße den Augenblick“-Coaching, nach dem nur die Momente der intellektuellen oder spirituellen Selbststeigerung oder der ästhetischen Verzückung „lohnen“. Leben ist aber kein Arbeitsprojekt. Wenn das, wenn mein Leben eine „Gabe Gottes“ ist, so mittelmäßig, so langweilig, so aufregend, so fantastisch, so traurig, wie es ist, dann ist das Erfüllung genug. Tiefster Ausdruck dieser Erfahrung ist übrigens die Liebe. Die Antwort geht immer.

 

David Wagner: „Ich höre meinen Organspender sagen: Steh auf!“

 

Wem die eigene Existenz eine Zugabe ist, dem erwächst gerade daraus eine große Freiheit, erläutert der Schriftsteller.

Wofür leben? Warum weiterleben? Weil ich eigentlich gar nicht mehr müsste. Weil ich eigentlich schon tot wäre – wenn, ja wenn ich mich nicht einst für eine Organtransplantation entschieden und vor zwölf Jahren, vielleicht großes Glück, ein Organ erhalten hätte. Und seither weiterleben darf. Mir ist ein Leben geschenkt worden, zum zweiten Mal. Allein dafür müsste es sich lohnen. Dabei fühle ich mich zu nichts verpflichtet. Ich müsste ja nicht mehr hier sein. Ich spiele in der Verlängerung, Extra-Time. Nachspielzeit für mich – aber nicht nur für mich, denn ich bin, wir sind nicht mehr allein in diesem meinem Körper. Ein Organ, das einmal in einem anderen war, ist nun hier bei mir, in mir, in diesem unserem Körper. Eine Tote, vielleicht auch ein Toter, ist in mir – aber sie ist gar nicht tot. Wir erhalten uns gegenseitig am Leben. Ein bisschen noch zumindest, eine Weile, sie mich, ich sie. Oder bilde ich mir das bloß ein? Möchte ich es mir einbilden? Ist das die Erzählung, die ich zum Weiterleben brauche? Aber du bist doch da, ich höre dich doch sprechen, höre dich sagen: Mach dies! Mach das! Steh endlich auf! Los, an den Schreibtisch, schreib diesen Satz, diesen hier, ja, genau den, den Sie nun gerade lesen: Ich bin nicht mehr allein. Und ich ist auch die andere. •

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