Jörg Noller: „Wir müssen uns in der KI erkennen“
Zu welcher Art von Erkenntnis ist künstliche Intelligenz fähig? Wichtige Einsichten finden sich bei niemand Geringerem als Immanuel Kant, meint der Philosoph Jörg Noller.
Herr Noller, in der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant fest, dass wir für die Erfahrung der Welt sowohl unsere sinnliche Wahrnehmung als auch unseren Verstand benötigen. Was bedeutet das für die Erkenntnisfähigkeit von KI-Systemen, denen sinnliche Wahrnehmung fehlt?
Wenn wir heutzutage von KI sprechen, meinen wir in der Regel maschinelles Lernen beziehungsweise künstliche neuronale Netze. Diese Systeme sind so aufgebaut, dass sie anhand einer unvorstellbar großen Anzahl von Daten mithilfe von Algorithmen, also schematischen Rechenoperationen und Handlungsanweisungen, trainiert werden. Algorithmen sind abstrakte, mathematisch beschreibbare Programme, die selbstständig Aufgaben lösen können. So verstanden sehen und erkennen KI-Systeme natürlich nichts, denn sie haben keine Wahrnehmungsorgane wie Augen, Nasen oder Ohren. Sie nehmen überhaupt nichts sinnlich wahr, da sie ja nur abstrakte digitale Daten hochkomplex verarbeiten und nach Wahrscheinlichkeiten ordnen. Was sie jedoch immer besser können, und worin sie uns Menschen teilweise übertreffen, ist, Muster in der Welt der Daten zu erkennen und zu unterscheiden. Alles Mögliche kann ein Muster sein, je nachdem, was unser Interesse ist: sprachliche Äußerungen, Katzenbilder, akustische Signale. Im übertragenen Sinne haben KI-Systeme also durchaus eine empirische Seite, da sie aus zahlreichen Daten Muster abstrahieren und dadurch auch klassifizieren und „erkennen“. Insofern könnten wir mit Kant sagen: „Algorithmen ohne Daten sind leer, Daten ohne Algorithmen sind blind.“
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