Jule Govrin: „Am Körper zeigen sich gesellschaftliche Gefüge“
Anstatt Zugang zu ihren Gedanken zu suchen, nähert sich Kafka seinen Figuren über ihre Körperlichkeit. Damit werden Herrschaft, soziale Enge, aber auch Kreativität und Widerstand zur leiblichen Erfahrung. Ein Gespräch mit Jule Govrin über eigensinnige Körper und Schreiben als Nahrung.
Jule Govrin, Körper – ihre Formen, Gesten, Versehrungen, Verwandlungen – spielen eine zentrale Rolle in Kafkas Erzählungen. Gibt es für Sie eine bestimmte Stelle oder ein bestimmtes Motiv, das Ihnen besonders ins Auge fällt?
Was mich bei Kafka fasziniert, ist dieser Kontrast zwischen den kühlen Formationen der Moderne, die er auch als eine Architektonik fasst – lange Gänge, verschachtelte Amtsstuben und Treppenhäuser stehen da für die Undurchdringlichkeit von Macht und Bürokratie –, und den Körpern, die eine gewisse Widerspenstigkeit behalten. Es gibt widerwillige Körper, die hier und da auftauchen, die mit der Macht verwoben sind, aber immer wieder Fluchtlinien aus der vermeintlichen Allgegenwart der Macht aufzeigen. Und das Thema Essen bei Kafka ist unheimlich interessant.
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Die neue Sonderausgabe: Der unendliche Kafka
Auch hundert Jahre nach seinem Tod beschäftigt und berührt Franz Kafka. Fast unendlich erscheint der Interpretationsraum, den sein Werk eröffnet.
Der philosophischen Nachwelt hat Kafka einen Schatz hinterlassen. Von Walter Benjamin und Theodor Adorno über Hannah Arendt und Albert Camus bis hin zu Giorgio Agamben, Gilles Deleuze und Judith Butler ist Kafka eine zentrale Referenz der Philosophie. Überlädt man ihn damit zu Unrecht mit posthumen Deutungen? Vielleicht. Sein Werk lässt sich aber auch als Einladung lesen, seine Rätselwelt zu ergründen und im Denken dort anzuknüpfen, wo er die Tür weit offen gelassen hat.
Hier geht's zur umfangreichen Heftvorschau!

Die Macht der Unterschiede
Was bedeutet Gleichheit, und wie kommen wir ihr näher? Branko Milanović, Thomas Piketty, Michael J. Sandel und Jule Govrin sondieren die Lage.

Rüdiger Safranski: „Kafka pflegt einen Absolutismus der Literatur“
Existenzielle Schuldgefühle plagten Kafka, der heute vor 100 Jahren gestorben ist. Ihr Ursprung, meint Rüdiger Safranski, liegt im Konflikt zwischen Leben und Schreiben. Im Gespräch erläutert er, wie Kafka beide Pole fast versöhnt und was seine Texte philosophisch so ergiebig macht.

Was weiß mein Körper?
Die Frage irritiert. Was soll mein Körper schon wissen? Ist das Problem denn nicht gerade, dass er nichts weiß? Weder Vernunft noch Weisheit besitzt? Warum sonst gibt es Gesundheitsratgeber, Rückenschulen, Schmerztabletten, viel zu hohe Cholesterinwerte. Und wieso gibt es Fitness-Tracker, diese kleinen schwarzen Armbänder, die ihrem Träger haargenau anzeigen, wie viele Meter heute noch gelaufen, wie viele Kalorien noch verbrannt werden müssen oder wie viel Schlaf der Körper braucht. All das weiß dieser nämlich nicht von selbst – ja, er hat es bei Lichte betrachtet noch nie gewusst. Mag ja sein, dass man im 16. Jahrhundert von ganz allein ins Bett gegangen ist. Aber doch wohl nicht, weil der Körper damals noch wissend, sondern weil er von ruinöser Arbeit todmüde und es schlicht stockdunkel war, sobald die Sonne unterging. Wer also wollte bestreiten, dass der Körper selbst über kein Wissen verfügt und auch nie verfügt hat? Und es also vielmehr darum geht, möglichst viel Wissen über ihn zu sammeln, um ihn möglichst lang fit zu halten.
Marie Luise Knott: „Das Lachen im Denken von Arendt hat einen Ursprung in Kafka“
Romane wie Der Proceß und Das Schloß zeigen die Abgründe von Bürokratie und Herrschaft. Und doch entdeckt Hannah Arendt bei Kafka etwas Utopisches. Wie das zu verstehen ist, erklärt Marie Luise Knott im Gespräch.

Die Wurstigkeit der Wahrheit
Als Philosoph der leiblichen Erfahrung hat Nietzsche nicht nur über die „große Gesundheit“ und Vernunft des Leibes nachgedacht, sondern sich auch für Ernährung interessiert. Seine fröhliche Wissenschaft führte zu einem Experiment in Vegetarismus, vor allem aber zu einer tiefen Erkenntnis: Alle Wahrheit ist im Kern wie eine Wurst.

Kafka, mein Körper und ich
Gebrechlich, abstoßend, gar fragmentiert: Immer wieder schreibt Kafka über das schwierige Verhältnis zum Körper. Unsere Autorin entdeckt gerade darin Möglichkeiten leiblicher Befreiung.

Die Engel im Blick – Walter Benjamin und Paul Klees „Angelus novus"
Die Ausstellung Der Engel der Geschichte – Walter Benjamin, Paul Klee und die Berliner Engel 80 Jahre nach Kriegsende im Berliner Bode-Museum rückt Paul Klees Zeichnung Angelus Novus in den Mittelpunkt – und dessen Bedeutung für die Geschichtsphilosophie Walter Benjamins. Max Urbitsch hat die Ausstellung besucht.
