Nüchtern – aber wozu?
Die Sober-Curiosity-Bewegung ermutigt zum Verzicht auf Alkohol. Was auf den ersten Blick nach Mäßigung aussieht, ist vielleicht die Suche nach dem wirklichen Rausch.
Der Alkoholkonsum ist in westlichen Ländern seit Jahrzehnten rückläufig. Die Deutschen zum Beispiel tranken in den 1970er-Jahren pro Kopf 15 Liter Alkohol pro Jahr, heute sind es zehn. Gerade unter Jüngeren lässt das Interesse am Trinken nach, weshalb Studentenkneipen in Cafés umgewandelt werden und Biermarken ihr alkoholfreies Sortiment ausbauen, nachdem die Jugend auch mit Alkopops nicht bei der Flasche gehalten werden konnte.
Die Sober-Curiosity-Bewegung (in etwa: „nüchtern, aber trotzdem neugierig“) macht aus diesem Trend ein Programm. Auf ihrer Website nullprozente.de heißt es: „Immer mehr junge Menschen“ stellen „die Gesundheit von Körper, Geist und Seele in den Mittelpunkt“ und „verzichten“ auf „Longdrinks, Wein, Cocktails und Spirituosen“.
Erwecke den Abstinenzler in dir?
Nun könnte man – die Signalwörter „Verzicht“ und „Gesundheit“ legen dies nahe – der Bewegung Lustfeindlichkeit vorwerfen, die das pralle auf dem Altar des nackten Lebens opfert. Aber vielleicht verhält es sich ganz anders. Vielleicht sind die Abstinenzler auf der Suche nach dem wirklichen Rausch, der eintritt, wenn sich der Alkoholnebel im Gehirn gelichtet hat. Schon Karl Kraus fragte: „Was sind alle Orgien des Bacchus gegen die Räusche dessen, der sich zügellos der Enthaltsamkeit ergibt!“ Damit befand er sich – für manche vielleicht überraschend – in der Gesellschaft Friedrich Nietzsches, der die „unbedingte Enthaltung von allen Alcoholicis“ empfahl. „Wasser thut’s“, während „Branntwein“ ebenso schädlich wirkt wie das „Christentum“. Diese beiden „europäischen Narcoticis“ macht er für die Existenzkrise des modernen Menschen verantwortlich. Wer sie überwinden will, müsse nicht nur Gott töten, sondern auch den Trinker in sich.
Die Frage ist nur, was man mit seiner Nüchternheit anstellt. Soll sie bloß das Wohlbefinden steigern? Oder große Werke hervorbringen? Für Nietzsche zählt nur Letzteres. Ohne Werkabsicht könne man sich auch gleich betrinken. In der Sober-Curiosity-Bewegung überwiegt jedoch der Wellnessaspekt, auch wenn an einigen Stellen ein kulturrevolutionärer Anspruch durchscheint: Es sei „höchste Zeit für neue gesellschaftliche Normen“ – nietzscheanisch gesprochen: eine „Umwertung aller Werte“, orientiert am Ideal der Nüchternheit. Gut möglich, dass hierin schon die Spaltung der Bewegung angelegt ist: in einen Werk- und einen Wellnessflügel.•