Sirenengesang
Am 10.09. werden in ganz Deutschland um 11 Uhr für eine Minute die Sirenen heulen und die Radiosender ihren Betrieb einstellen. Der Grund: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) führt damit einen nun jährlich stattfindenden „Warntag“ ein, durch den die Bevölkerung für künftige Katastrophen sensibilisiert werden soll. Daran wird deutlich, wie fundamental sich unser Verständnis von Sicherheit geändert hat – und warum dieses für die großen Katastrophen der Zukunft wenig taugt.
Einigen mag eine derartige gesamtgesellschaftliche Krisenübung bekannt vorkommen. Seit dem Kalten Krieg gab es so etwas auf Bundesebene allerdings nicht mehr. Dies stellt dem BKK-Präsidenten Christoph Unger zufolge allerdings ein Problem dar, weil man die deutsche Bevölkerung nicht „einlullen“, sie nicht in falscher Sicherheit wiegen dürfe, wie es in einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur hieß. Die Zukunft werde, so Unger, „ungemütlicher“. Doch was meinen wir, wenn wir heute Sicherheit sagen?
Zunächst einmal das Gegenteil von dem, was die antike Philosophie darunter verstand. Das lateinische „securitas“, das sich aus „se“, „ohne“, sowie „cura“, „Sorge“, zusammensetzt, bezeichnete seinerzeit einen Seelenzustand, der als Freiheit von Schmerz und Unwohlsein die Voraussetzung für ein gutes Leben darstellte. Entsprechend definierte der Stoiker Cicero „Sicherheit“ in seinem ca. 45 v. Chr. erschienenen Werk Gespräche in Tusculum als „die Abwesenheit von Kummer, worin das glückliche Leben besteht“.
In der frühen Neuzeit rückten christliche Autoren wie Johannes Calvin und Martin Luther den Begriff allerdings weg von ausschließlich positiven Assoziationen und platzierte ihn in unmittelbare Nachbarschaft zur „acedia“, der „Trägheit“, die im mittelalterlich-katholischen Wertekanon nicht nur als verachtenswert angesehen, sondern ebenso als eine der sieben Todsünden bestraft wurde. Diese Umwertung des Begriffs wirkt bis in die Gegenwart fort. Wer in Zeiten von Terrorismus und Pandemie auf seine Sicherheit bedacht ist, wird demnach politisch angehalten, gerade nicht mehr sorglos, sondern besonders auf der Hut zu sein. Oder anders gesagt: Das Sicherheitsdispositiv der Moderne besteht nicht mehr in der Sorglosigkeit, sondern erfordert permanent gerichtete Sorge, also Wachsamkeit.
Ist die Einführung eines „Warntages“ also begrüßenswert, weil uns die Sirenen aus dem katastrophenvergessenen Schlummer reißen? Im ersten Moment mag dem so scheinen. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass – von terroristischen Attacken abgesehen – die großen Krisen der Zukunft keine Habacht-Ereignisse sein werden, auf die man binnen Minuten reagieren muss, sondern schleichende Veränderungen, denen man Tag für Tag entgegenwirken muss, bevor es zu einem Kipppunkt kommt.
Ressourcenknappheit, die Folgen des Artensterbens und des Klimawandels und übrigens auch Pandemien brechen nicht von einem Moment auf den anderen über uns herein wie ein atomarer Erstschlag, sondern vollziehen sich langsam und für viele zunächst unbemerkt. Sie sind, wie es die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn in ihrem Buch Zukunft als Katastrophe nennt, „Metakrisen“. Also eine „Katastrophe ohne Ereignis, denn sie besteht gerade in der Kontinuität, im schieren Weitermachen. Sie hat keine klar benennbaren Akteure und Schuldigen, keinen präzisen Moment oder einen begrenzbaren Ort, kein einzelnes Szenario.“ Ob eine Minute Lärm, wo sonst Stille ist, und Stille, wo sonst konstante Beschallung herrscht, im Jahr ausreichen wird, um das Bewusstsein hierfür zu schärfen, bleibt fraglich. •
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